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Sexueller Mißbrauch wird zur Delikatesse

■ Frauengruppen versuchten, Konferenz zu sexuellem Mißbrauch zu verhindern / „Einseitig und verharmlosend“

Nur unter dem Schutz der Polizei und mit vier Stunden Verspätung konnte gestern eine Konferenz unter dem Titel „Sexueller Mißbrauch – Evaluation der Praxis und Forschung“ in der Technischen Fachhochschule in Wedding eröffnet werden. Mit Buttersäure, Trillerpfeifen, Hupen sowie einer Blockade des Veranstaltungssaals verzögerten etwa einhundert Frauen und Männer den Beginn. Zu guter Letzt gingen im Saal die Lichter aus. Ein neuer Raum mußte gefunden werden.

Der neutral klingende Titel der Veranstaltung klingelte der Berliner Frauenbewegung und insbesondere Mitarbeiterinnen der Arbeitsgemeinschaft gegen sexuellen Mißbrauch „Wildwasser“ in den Ohren. Unterschwellig hatte Reinhart Wolff, Rektor der Alice-Salomon-Fachhochschule für Sozialarbeit unter dem im vergangenen Jahr immer eifriger vertretenen Motto vom „Mißbrauch mit dem Mißbrauch“ eingeladen – in Zusammenarbeit mit Jugendsenator Thomas Krüger (SPD) und unter Beteiligung der wegen ihrer Thesen zur „Modediagnose sexueller Mißbrauch“ umstrittenen Autorin Katharina Rutschky.

Unter dem „Druck der Massenmedien“ sei die Aufmerksamkeit für die Gefährdung der Kinder immer stärker in eine „ideologisierte Mißbrauchspanik“ und „uferlose Verdächtigungshysterie“ umgeschlagen, hieß es schon in der Einladung, die laut anwesender Frauen ebenfalls nur an ausgewählte Personen verschickt wurde.

Auf Transparenten und in Sprechchören forderten die DemonstrantInnen ein Ende der Verharmlosung sexueller Gewalt. Der einseitig besetzte Kongreß sei untragbar und wissenschaftlich unvertretbar. Wolff, Rutschky und andere ReferentInnen wurden bei dem Versuch, den Saal zu betreten, von wütenden Demonstrantinnen körperlich angegriffen.

Das Ende der Eskalation im Saal führte dann immerhin zu Diskussionen auf dem Gang. Die DemonstrantInnen verhielten sich mit der Verhinderung des Kongresses diktatorisch und undemokratisch, wetterten jene, die gerne teilgenommen hätten. Die Veranstaltung habe mit Demokratie nicht das Geringste zu tun und sei in sich Ausdruck von Gewalt, konterten die Anarchos. Es sei „eine Katastrophe“, daß sie sich nicht „inhaltlich auseinandersetzen“ könnten, konstatierten weniger Aufgewühlte.

In einem eilig organisierten Saal – ohne Buttersäure und mit Licht – begann die Konferenz gegen Mittag unter Beteiligung der Polizei, die sämtliche Ausweis der TeilnehmerInnen kontrollierte. Rutschky, von Wolff einleitend auf eine Stufe mit Susan Sontag gestellt, eröffnete das Podium – ebenso provokativ wie erwartet.

In den meisten Fällen diene sexueller Mißbrauch als „Metapher“ für Krisen völlig anderer Natur, so Rutschky, für Krisen der Intimität in Beziehungen, bei Scheidungen, zur Kompensation von Verletzungen aus der Kindheit etc. Selbst wenn es eine Tat gegeben habe, würde diese in der Phantasie der „fanatisierten Helferszene“ mit wahrer „Mißbrauchsfolklore“ umrankt. Sexueller Mißbrauch werde so zur „pädagogischen Delikatesse“.

Die Befürchtung der DemonstrantInnen, mit den ReferentInnen gefährliche Thesen unter ein unbedarftes Publikum zu mischen, bestätigte sich jedenfalls nicht. Proteste in Form von Zwischenrufen und Diskussionsbeiträgen gab es reichlich. Die Konferenz wird heute um 17 Uhr mit einer Podiumsdiskussion – in Gegenwart von Jugendsenator Thomas Krüger, der seit einigen Jahren für die massive Sparpolitik bei „Wildwasser“, „KiZ“ und anderen Projekten zum sexuellen Mißbrauch zuständig ist – beendet. Zur erneuten Gegendemonstration vor der TFH wurde bereits aufgerufen. Jeannette Goddar

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