Rapping Volkshochschule

Nachrichten von Monkeys und Menschen: Der Pop-Theoretiker Diedrich Diederichsen entdeckt Amerika neu  ■ Von Thomas Groß

Play it again, Sam: „Wenn die alten Kriterien für Befreiung wie der Tabubruch, das spontane Ereignis, der Rausch umstandslos von Nazis übernommen werden können, dann scheint es ja angezeigt, von diesen Kategorien Abschied zu nehmen.“

Das schreibt Diedrich Diederichsen, immer wieder gern als „Pop-Papst“ tituliert, in der x-ten Remix-Fassung seines Aufsatzes „The Kids are not alright“. Etwas mehr als ein Jahr ist vergangen, seit er die Rede vom „Abschied von der Jugendkultur, wie wir sie kennen“ (so der Subtitel) unter dem Eindruck der Malcolm-X-Kappen tragenden Mob-Jugend von Rostock in die Welt gesetzt hat; ein Jahr, in dem diese Rede als hookline immer wieder aufgetaucht ist: in Diskussionen geschockter Pop- Strategen, in den Spalten der Zeitung, die Sie gerade lesen, aber – und oft mit erleichtertem Unterton – auch in Publikationen, denen die Idee jugendlicher Gegenkulturen ohnehin nie besonders geheuer gewesen ist (zuletzt, als „Abschied von der Popkultur“, im Spiegel). Kein Zweifel: „The Kids are not alright“ ist in der kurzen Zeit seit „Rostock“ zum Klassiker avanciert.

Klassiker machen ihre Autoren extrem populär, haben aber den Nachteil, daß sie plötzlich allen gehören. So kommt es zu der eigenartigen Situation, daß „The Kids are not alright“ in der Form, in der es in den unlängst erschienenen Diederichsen-Sammelband „Freiheit macht arm“ aufgenommen wurde, bereits die Kritik seiner eigenen Rezeption betreibt. Diederichsen will Mißverständnisse ausräumen; (etwas arg) gekränkt rechnet er mit seinen falschen Freunden und echten Feinden vom Feuilleton ab, um, das vorneweg, am Ende doch wieder bei einer Apologie des Subversionsmodells „Pop“ zu landen: „Dopebeats als Mindestkommunikation gegen die segregationistische Tendenz der Weltwirtschaft“.

Die permanente Reflexion

Ohne Musik läuft nichts im Lande Bohemia, bloß ist sie nicht mehr selbstverständlicher Soundtrack eines Aufbegehrens, mittels dessen weiße Jugendliche ihre Bedürfnislage in legitimen Protest vor den Zwängen der Geschichte umzurocken pflegten. In einer Situation, in der „Gefühle wieder potentiell faschistisch“ (Diederichsen) sind, kann das „Natur“-Recht auf Popmusik nur überleben, wenn sich die permanente Revolte mit der permanenten Reflexion verknüpft.

Insofern sind die in „Freiheit macht arm“ zusammengestellten Beiträge (verstreute Texte aus den Jahren 90–93) trotz ihrer Neigung, ins Entlegene hineinzuwuchern, Variationen über ein Thema: Wie lassen sich Rahmenbedingungen konstruieren, die die sinnlichen Momente von populärer Musik retten, ohne dabei einem schlechten Vitalismus anheimzufallen. Wo kommen noch verbindliche Urteile her? Und was sagt die Geschichte dazu?

Subjektivitätsbarock

Am Anfang steht trotz allem ein Abschied: Die weiße Rock-Melodie, über rund 40 Jahre der Busenfreund aller jungen Seelen-Rebellen, wird zu Grabe getragen. Diederichsen interpretiert sie als Ausdruck eines dynamischen Expansionskapitalismus, dessen Glücksgüterproduktion sich noch gleichsam beim Wort nehmen ließ: Vaters Auto war nicht nur zur Erreichung von Verkehrszielen nützlich, sondern auch für Freiheit und Abenteuer (Sex eingeschlossen) auf Amerikas endlos scheinenden Straßen – ein Mobilitätstraum, wie er etwa im „Fun, fun, fun“ der Beach Boys zu Rhythmus und Melodie fand. Heute, so Diederichsen, sei dieses Modell auszumustern, weil unter den Bedingungen allseitiger sozialer Desintegration die Freiheitsversprechen selbst an ein Ende gekommen sind. Rock, im Sinne eines „Gib-Gas-ich-will- Spaß“-Bikertums dumpf durchgezogen, taugt nicht mehr zum Kult, weil er vor allem noch spätkapitalistische Psychomonster hervorbringt: Steintempel-Piloten, Manische Straßenprediger, Seelenasyle, Perlenmarmelade, Gewehre und Rosen.

Überflüssig zu betonen, daß dieser Abschied auch Herzblut gekostet haben muß, trifft er doch nicht nur das über lange Jahre liebgewonnene Böse-Buben-Erbe des Rock, sondern auch all die zart-dekadenten Kleinspinner im Dienste der ewigen Sixties-Melodie. Diese tun zwar niemandem etwas zuleide, haben sich aber rettungslos weit von den Orten entfernt, an denen die aktuellen Widersprüche der Gesellschaft umgeschlagen, Ausdruck – und damit Pop-Musik werden. Ohne daß es in dieser Form gesagt wird, sind Exzentriker-Bands wie The Deep Freeze Mice für Diederichsen späte und traurige Verfechter einer Art Subjektivitätsbarock, einsame junge Werther, die noch da, wo sie sich ganz in den schönen Abgrund einer Songzeile stürzen, auch vom Verlust einer dem (klein-)bürgerlichen Willen zugänglichen Welt träumen.

Im Versuch, sich neu zu verorten, sendet der Diederichsensche Text, ohne Zweifel selbst ein Kind dieser Sehnsucht, seine Tentakel in sehr verschiedene Denkgegenden. Er unterzieht den Subversionsbegriff einer historischen Revision, indem er sich an einer großangelegten Typo- und Topologie all der verschiedenen Formen von Dissidenz seit dem Aufkommen urbaner Boheme-Figuren versucht; er geißelt den Rechtsruck deutscher Intellektueller und erschrickt vor der völkischen Wende der in den siebziger und achtziger Jahren noch links codierten „Vernunftkritik“; er untersucht die „Gedankennot“ einer Linken, die von matt gewordenen „Überzeugungen“ und „Utopien“ (statt Analysen) zehrt. Fündig im Hier und Heute wird er allerdings erst beim schwarzen HipHop. Diederichsen entdeckt sozusagen Amerika noch einmal neu. Als hätte er gerade den Stein der Weisen in Händen, verkündet er in sonst selten gewordener Apodiktik: „HipHop ist die Erzählung, das Master Narrative unserer Epoche. HipHop ist die Musik der Jugendlichen und der Minderheiten nach der Hoffnung auf Überwindung von Widersprüchen, auf Revolution und Utopie.“

Das hört sich gut an, markiert aber nur den Anfang einer Kette von Schwierigkeiten. Wenn HipHop die genuin antiutopische Musik ist, die den Rock'n'Roll als „Musik zur Zeit“ ablöst, wie sollen sich dann ausgerechnet hier die Mißverständnisse vermeiden lassen, die die Rezeption schwarzer Beats durch weiße Jugendliche immer schon begleitet haben? Was hindert hiesige Großstadtkinder, Gangsta-Rap genau so zu verstehen, wie er zu großen Teilen ja auch gemeint ist: als Einklagen des Menschenrechts auf Kapitalismus, von einer Position des Ausschlusses aus formuliert (nur daß eben manche marginalisierter sind als andere)? Was bewahrt die diversen Stammesidentitäten, die sich unter bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen in den urbanen Zentren herausbilden, vor nationalistischen Mißverständnissen (Stichwort: Bosnien-Herzegowina)? Und vor allem: Wenn HipHop wirklich der brennend aktuelle Ausdruck des desintegrativen Spätest-Kapitalismus ist, der in schwarzamerikanischen Ghettos wie Compton oder South Central tobt, wird er sich dann ausgerechnet von einem 36jährigen weißen Deutschen bürgerlicher Abstammung seine Interpretation vorsingen lassen?

Es spricht für Diederichsen, daß er diese Definitionsgewalt nur zu Teilen für sich in Anspruch nimmt. Zwar versucht er sich selbst an einer kasuistischen Mikrogeschichte schwarzamerikanischer Musiken von Gospel über Soul, Blues, Rhythm'n'Blues und schwarzem Pop bis eben hin zu HipHop; zwar hat sein Zugriff auf dieses Material immer mehr oder weniger offen auch etwas mit der Ausstellung kulturellen Kapitals zu tun, das der machtbewußte Diederichsen im Kampf um intellektuelle Positionen ins Feld und im Schilde führt (dies alles habe ich bereist, wäh

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rend ihr auf eurem Arsch sitzengeblieben oder nach rechts gerückt seid!); doch er bringt eben auch schwarze Kulturkritik selbst zum Sprechen. Fast parallel zu „Freiheit macht arm“ sorgte er als Herausgeber für das Erscheinen eines Sammelbandes namens „Yo! Hermeneutics!“, der (von einigen Ausnahmen wie Tzvetan Todorov, der als weißer Exilrusse in Paris Linguistik lehrt, abgesehen) den aktuellen Stand afroamerikanischer Diskussion um HipHop, „schwarze“ Kulturproduktion und deren Theorie dokumentiert. Mit von der Partie (u.a.): der Literaturwissenschaftler Henry Louis Gates, Angela Davis, der Filmregisseur Isaac Julien, die Women's Studies-Dozentinnen Michele Wallace und bell hooks sowie die New Yorker Hip-Journalisten Greg Tate und Stanley Crouch. Wenn „Freiheit macht arm“ das Logbuch der Entdeckungsreise des Sinnlichkeits- und Theorie-Kontinents „schwarze Kulturkritik“ ist, ist „Yo! Hermeneutics!“ der produktive Reader dazu: die rapping Volkshochschule in Sachen Hiphop und dessen Vorgeschichte.

Roll over, Picasso

Natürlich läßt sich hier nicht in Kürze referieren, wie und mit welchen Inhalten dieser verschüttete Kontinent zu „seiner“ Sprache findet, nur soviel: Alle AutorInnen sehen sich mit dem Problem konfrontiert, ihr Denken und Argumentieren von einer Position des Ausschlusses her zu entwickeln. Egal, ob Cornel West das Dilemma schwarzer Intellektueller auf den Mangel an spezifischer Infrastruktur zurückführt, Michele Wallace vorschlägt, den Diskurs schwarzer Frauen mit Klein-„x“ (für radikale Abwesenheit und Negation) zu benennen oder Greg Tate in der Village Voice daran arbeitet, Ergebnisse von Black Studies in journalistische Hip-Sprache zu übersetzen (und dadurch zu popularisieren) – immer muß das diskursive und institutionelle Netz, das dieses Sprechen trägt, zu Teilen im Prozeß des Sprechens selbst erfunden werden.

Das hat im Alltag die Nachteile jeder Form von Marginalisierung – Anstrengung, Kampf, Konfrontation mit Komplexitäten, „Gedankennot“ –, birgt aber auch die Chance, mißtrauisch gegenüber der Macht zu bleiben, die in Sprache und Institutionen wirkt. Wo nichts selbst-verständlich ist, entspringt Sprechen und Denken immer einem Schwebezustand, in dem das vorgefundene Reservoir kultureller Formen erst überprüft wird, bevor der „eigene“ Ausdruck es sich anverwandelt. „Schwarze“ Kultur, die sich nicht in der Sackgasse von Nationalismus, in einem Akt negativer Identifikation angenommener „Rasse“-Theorien und/oder Back-to- Africa-Mythen verliert, wäre also qua Geschichte kritisch: sie trägt die Spur der Unterdrückung als Ent-Stellung in eine Kultur der Herrschaft hinein.

Henry Louis Gates, als Wissenschaftler in den USA eine Art intellektueller Pop-Star, nennt diese Praxis der Bedeutungserzeugung „Signifying“. Für ihn steht sie mit einer Figur der afro-amerikanischen Mythologie in Verbindung, dem „Signifying Monkey“, der die ironische Umkehrung der rassistischen westlichen Vorstellung vom Schwarzen als Affen verkörpert. Der „bedeutungshervorbringende Affe“ ist ein Trickster, Spieler und Sprachentsteller, er „lebt in den Zwischenbereichen der Diskurse, verdreht die Wörter und spielt mit ihnen, er bildet Wortfiguren und zeigt die Ambiguitäten der Sprache auf, indem er ihr ihre Eigentlichkeit nimmt“.

Dieses Grundkonzept ähnelt nun nicht nur auffällig der grundlegenden Funktionsweise moderner Texte seit Mallarmé, wie sie etwa Julia Kristeva in „Die Revolution der poetischen Sprache“ beschrieben hat (Rhythmisierung des Sprachmaterials, Glossolalien, Polysemien), es zeigt auch, „daß diese Furthermuckers einen ganz neuen Funk drauf haben“. Der hippe Greg Tate, von dem dieser Halbsatz stammt, zieht den naheliegenden Schluß, daß moderne poetische Texte und HipHop eine Menge miteinander zu tun haben. Wenn die Sprachspiele der Moderne immer schon „Musik in den Buchstaben“ (Kristeva) hatten, dann betreiben die Rhymes der Rapper, die ja durch Repetition, Segmentierung und Hintersinn funky Arbeit am Sprachmaterial verrichten, eine Popularversion davon.

HipHop wäre also so etwas wie eine aus den Fesseln des Akademismus und der Schriftkultur befreite universelle Sprachkunstpraxis – Kafka, in die Gosse gefallen, oder, um es mit Greg Tate zu sagen: „Roll over Picasso, tell William Rubin the news“.

Der neue Jugendmensch

Genau an diesem Punkt setzt auch Diederichsens Neubestimmung von Jugendkultur an. Aus der strukturell ähnlichen Lage von Intellektuellen, die ja qua Tradition am Rande bürgerlicher Lebensentwürfe angesiedelt sind (oder zumindest sein sollten), Feministinnen, KünstlerInnen und hochbewußten FreundInnen schwarzer Musik konstruiert er eine biegsame Front der intelligenten Marginalisierten. Wortführend dabei: die machtnegierende, parodierende und spielerische Praxis des „Signifying“: „Weiße HipHop- Fans sind vielleicht die erste Jugendkultur, die (...) sich nicht identifiziert, sondern sich damit identifiziert, sich nicht zu identifizieren.“ HipHoper sind in Diederichsens Sicht Trickster des Sozialen: mit fließender, erst noch zu rappender Identität. Ihr Mißtrauen gegenüber der verwalteten Welt ist universell. So gebiert der jüngste Stand zeitgenössischer Popularmusik noch einmal subversive ästhetisch-politische Subjekte, die den Verhältnissen ihren Refrain vorsingen, ganz im Sinne von „Hey, hey, we're the Monkees“.

Abenteuerlich, diese Konstruktion – muß man's noch extra betonen? Die Kluft zwischen Produzenten und „Arbeitern des Kopfes“ ist enorm, der Schulterschluß zwischen Linguistik, Theorie der Moderne und Denken der Straße – trotz Ansätzen zu einer Repolitisierung der hedonistischen Linken – nicht in Sicht. Auch nicht eine Neubewertung der fucking Selbstreflexivität im Hiphop: Bislang wiederholen viele Rap-Texte lediglich den ganzen homophoben, frauenfeindlichen und antisemitischen Mist der Rock'n'Roll-Tradition, und denkbar wenig spricht dafür, daß es sich dabei bloß um eine Kinderkrankheit des Radikalismus handelt.

Slanguage

Doch „Realität“ im schnöden pragmatischen Sinne war die Sache solcher Würfe noch nie, und wo die Chancen schon schlecht stehen für eine politische Umsetzung der Diederichsenschen Ideen, so gelingen sie wenigstens als Text: Die enorm produktive Literaturmaschine Diederichsen wälzt Anteile ihres Gegenstands immer auch im eigenen Sprechen um. Was immer wieder als „Halbgares“ dieser Sprache diagnostiziert wird, ist im Grunde Prinzip: Nach der einen Seite buhlt sie um Anerkennung in der Welt der intellektuellen Zirkulation, will glänzen, alles kennen, alles immer schon gewußt haben, nach der anderen haßt sie nichts so sehr als ausgerechnet dieses. Dann will sie Ruf und Namen loswerden, den Gedanken denken, der sich selber noch nicht so recht kennt. Wie unter Zwang muß sie den sauberen denkerischen Duktus immer wieder durch Wortspiele, Assoziationsflüsse, Anspielungen, Samples, Sprachrauschen, eben durch „Signifying“ harten Zäsuren aussetzen. Denn es zieht sie ja hinaus in ferne Gegenden, wo die wilden Kerle wohnen. Dort sucht sie allerdings, und das ist Klasse, nicht mehr die blinde Identifikation, sondern die „Widersprüche, die auszuhalten mein auf Versöhnung der Gegensätze trainierter Kleinbürgerverstand strukturell in der Lage ist“.

Was einem aus dem Kaffeesatz von Diederichsens rapping Volkshochschule entgegenstiert, ist das Bild einer bürgerlichen Flüchtlingsfigur, die irgendwann einmal mit dem Virus „Pop“ infiziert wurde und seither mit dem ganzen Pathos euro-afro-amerikanisch- deutscher Slanguage immer wieder neue Rhetoriken der Befreiung um dieses Kraftzentrum herumbastelt. Die schwarzafrikanische Tradition spricht in solchen Fällen von „Testifying“ – Zeugnis ablegen von verschollenen Traditionen, die vielleicht doch einmal ins gelobte Land führen. Der rolling Wanderprediger Diederichsen macht's profaner, aber nicht weniger würdevoll, wenn er schreibt: „Love & Respect. Ihr wißt, wer ihr seid“.

Nein, wir wissen es nicht immer, aber wir getten immer wieder down into the groove.

Diedrich Diederichsen: „Freiheit macht arm“. Kiepenheuer & Witsch 1993, 283 Seiten, 19,80 DM.

Diedrich Diederichsen (Hg.): „Yo! Hermeneutics!“. Mit Beiträgen von Cornel West, bell hooks, Greg Tate, Michele Wallace, Henry Louis Gate, Angela Davis, Stanley Crouch u.a.. Edition ID- Archiv 1993, 235 Seiten, 36 DM