Ohne Hunger nichts zu lachen

Die Welt der bedürfnislosen Fülle: Die Grüne Woche in Berlin hat das Schlaraffenland überwunden. Aber kein Schwein lacht / Von brandenburgischen Spezialitäten und Abferkelbuchten  ■ Aus Berlin Niklaus Hablützel

Wer hungert, hat nichts zu lachen. Berge von Schinken und Würsten, dampfende Suppen, gebratene Gänse, schäumendes Bier, Milch und Honig konnten nur Sinnbilder des Schlaraffenlandes werden, weil ihnen die Erfahrung des Mangels anzusehen ist. Das Schlaraffenland selbst ist deswegen nie als Zustand der Glückseligkeit dargestellt worden, seine Bewohner sind nicht erlöst, sondern vollgestopft. Erschöpft liegt der Fettwanst im Gras, ein Hühnerbein im Maul. Er wird aufwachen, die Gier von neuem verspüren, den Zwang des Hungers, und vielleicht wird er schon im Schlaf wieder von gedeckten Tischen träumen. Lachen kann er nicht einmal in diesem Traum.

Seit 1926 ist im preußischen Berlin die Grüne Woche eine Tradition geworden. Sie wird mit Pflichtgefühl und einer gewissen Andacht besucht. Niemand lacht, für eine bloße Gaudi ist die Sache zu ernst. Denn auch dieser Schau der Lebensmittel ist die Erfahrung des Mangels anzusehen, der Hungerwinter in der sandigen Einöde, die um die Stadt herumliegt. Sehr zu Unrecht ist die Grüne Woche als Freßmesse verspottet worden, Hunderttausende, die sich in qualvoller Enge an den Ständen vorbeidrängeln, wissen es besser. Sie wollen schauen, nachschauen, sich vergewissern, daß es das alles wirklich gibt, sogar im Januar, da einst die Vorräte schon knapp wurden und noch so lange reichen mußten.

Soziale Klassen kennen sie nicht, die Besucher und Besucherinnen. Teuer gewandete Damen stellen sich neben dickbäuchige Familienväter und Angestellte mit Dauerwellen. Eine gemeinsame Anstrengung liegt ihnen im Gesicht, sie läßt kaum ein Lächeln zu. Niemand verweilt lange an einem Ort. Man wird geschoben und will selber weitergehen, von den Auslagen Thüringens zu Niedersachsen, schnell durch die Halle Brandenburgs, nach Österreich vielleicht.

Wichtig ist dieser Versuch, Weltläufigkeit zu zeigen, jedoch nicht. Er wird nur am Rande beachtet. Das deutsche Bier ist das beste, heißt es später am Nachmittag, wenn sich kurz vor Torschluß Herrenrunden an den Stehtischchen bilden. Die statistische Normalverteilung ist unverkennbar. Dauerstau in der Halle der deutschen Spezialitäten, die jetzt „aus dem Herzen Europas“ stammen, auch bei den italienischen Pizzerien und Espressomaschinen ist kein Durchkommen; aber in Puerto Rico, Moldawien oder Australien sehnt sich das Personal nach Laufkunden für Probehäppchen.

Deutschland in Laubsägearbeiten

Nun ist eine Bodega aus Spanplatten und Winkeleisen kein besonders gastlicher Ort. Aber die deutschen Dorf-, Wald- und sonstigen Heimatschänken sind auch nur zu groß geratene Laubsägearbeiten, an denen jedes Geschmacksurteil abprallt. Trotzdem stehen Schlangen vor dem Zapfhahn. Der Transport gefüllter Plastikteller durchs Gedränge geschieht auf eigenes Risiko, das wir aber dankbar auf uns nehmen, wenn wir einen freien Sitzplatz ergattert haben. Hier sind wir zu Hause.

Und haben immer noch nichts zu lachen. Denn die Grüne Woche will nicht nur Firmen, ganze Länder und die Verdienste der Bundesregierung ausstellen, sie nötigt auch zu dialektischen Gedankensprüngen von beträchtlichen Schwierigkeitsgraden. Auf beinahe jeder Stellwand lauert ein Paradox: „Der Schinken ist das Beste am Spargel“. Oder: „Jenaer desto lieber“. Damit wirbt die Stadtbrauerei Jena, die ihr Getränk auch in Zweiliterflaschen für zwölf Mark anbietet, in einem Format also, das auf keine Baustelle mehr paßt. Wo also soll diese Pulle dann geleert werden?

Überall müssen solche Rätsel gelöst und Antworten gefunden werden, die tief in sehr spezielle Fachgebiete hineinführen. Was zum Beispiel verbirgt sich hinter einem „Premium-Rindfleisch“? Regelmäßige Gesundheitskontrollen, geregelte Futterqualitäten, Fettanteile, Muskelfaserstärken und „Sicherheit für den Verbraucher“. Hat er danach gefragt, der Verbraucher?

Weit mehr sogar hat sich die „Centrale Marketinggesellschaft der deutschen Agrarwirtschaft“ vorgenommen mit der Grünen Woche, für die sie federführend ist. Sie will auch noch das Schlaraffenland überwinden, um den Hunger ganz und gar vergessen zu lassen, der dort als Gegenbild herumgegeistert hat. Zahllose Stichworte und Symbole hat sie für diesen Weg in eine neue Welt bedürfnisloser Fülle gefunden: Qualitätsabzeichen für ganze Warengruppen zum Beispiel, Herkunftssiegel und Inhaltsangaben, aber auch Hinweise auf die Funktion menschlicher Verdauungsorgane, denen sie durchaus Rechnung tragen möchte. Daß uns Calcium hilft, verheißt ein ganzer Himmel hellblauer Transparente. Dialogische Lernprogramme stehen auf Personalcomputern zur Verfügung, die weitere Aspekte des richtigen Sattwerdens erläutern. Die Urgefühle des Hungers und der Völle hören auf, ein Gegensatz zu sein; sie lösen sich auf und werden ersetzt durch Begriffe der Vielfalt, der Abwechslung, der Anpassung an Situationen, der Natur und der Geschichte.

Ein gewisses Schwindelgefühl im Kopf allerdings scheint der Preis dieser fortgeschrittenen Magenpflege zu sein. Die Bilder beginnen zu verschwimmen, drehen sich im Kreis wie die Warenkörbe der Bundesländer auf der schrägen Drehbühne am Eingang der Halle Nummer 20. Alles ist typisch und insofern gleich, Aal-Dieter aus Hamburg und die Schlawiner- Würstchen aus dem Saarland, wirklich verblüffend ist nur die Packung Cornflakes von Kellogg's, die mitten im Präsentierkorb Brandenburgs steht. Wie ist sie dorthin gekommen? Solche Fragen sind es, die in dieser Ausstellung ermüden. Sie zwingen zu schier endlosen Spekulationen. Ballaststoffe? Eine Transformation der Jeans-Manie aus der alten DDR? Ein vorbildliches Joint- venture?

Nichts ist darüber zu erfahren. Der Mangel ist beklagenswert, das Projekt hat seine Kehrseiten. Eine ist offensichtlich: Der Schau fehlt jeder Sinn für Luxus. Auslagen und Stände quellen über vor Dosen, Würsten, Kuchen und sogar „mehr als nur Milch“, aber nichts ist mit der Geste der Verschwendung hingebreitet, so als sei es nur zum Genuß geschaffen. Unvorstellbar, daß auf den paar tausend Quadratmetern Ausstellungsfläche ein Gelage ausbrechen könnte. Dafür fehlen der Platz und die Lust. Die Gartenhäuschen passen am besten dazu, die Vorzüge von Leimholztüren, Goldfischteichen und abflußlosen Sickergruben, der Heckenscheren und des praktischen Farbkesselaufhängers für die Heimwerkerleiter zum Preis von 14,95 Mark: solche erstaunlichen Dinge füllen mehrere Hallen mit eingeborenen Berlinern, die ungestört von Hauptstadtpflichten ihr grandioses Talent zur Schrebergärtnerei ausleben wollen.

Wo aber bleibt die Landwirtschaft? Spürbar hat die Grüne Woche ein Problem damit. Der Rundgang führt unvermeidbar auch in die große Halle, die diesmal der 3. Bundesschau der Fleischrinderzucht gewidmet ist. Fachleute reden miteinander. Laien staunen ein wenig, und gehen weiter. Vielleicht lesen sie noch, daß Charolais-Rinder in der Mast täglich 1,392 Kilogramm zunehmen. Damit dürfte die Grenze der natürlichen Zuchtwahl erreicht sein, danach beginnt die Gentechnik, falls sie nicht schon jetzt ein bißchen mitgewirkt hat. Wieder ist nicht zu erfahren, was hinter diesen Tieren steckt, die auf einer Sandfläche paradieren müssen und sonst im sauberen Stroh der weiteren Dinge harren. Nur fällt auf, daß das Wort „Würde“ bisher nicht anwendbar war. Hier schon. Wenn sich ein Charolais-Stier aus seinem Lager erhebt, ist das ein Schauspiel von majestätischer Schönheit. Der Zuchtpreis ist ein läppisches Nichts vor dieser ruhenden Kraft. Die Augen blicken milde über das Gatter. An ihnen scheitert jede Vermarktungsstrategie.

Weil das so ist, wenigstens nicht absehbar ist, wie diese absolute Grenze zur anderen Kreatur überwunden werden könnte, steht jetzt ein Gang in die Unterwelt bevor. Man kann ihn hinauszögern, einen Umweg machen an Kaninchen und weiteren Zuchtrindern vorbei. Es hilft alles nichts, die Halle Nummer 1 muß bewältigt werden. Nicht nur das Schlaraffenland des Mittelalters gehört der Vergangenheit an, auch die dazu passenden Höllenbilder voller Schwefel, Pest und Teufelsfratzen. Es ist hell, ruhig und sauber. Poliertes Metallgestänge glänzt neben Schläuchen, Schalttafeln und Pumpen. Das Hungern ist hier nicht überwunden, sondern verboten, und zwar um jeden Preis, auch den des Lebens. Nicht für den Menschen, aber für ein Tier, das ihm einmal nahestand. Die Sonderschau heißt „Zukunftsgerechte Schweinehaltung“, Untertitel: „Moderne Technik und Verfahren für die Schweineproduktion“.

Abferkelbuchten für die Muttersau

Das ist wörtlich zu nehmen. Schweine werden produziert. Daß sie tatsächlich immer noch geboren werden müssen, ist das Problem, das einer Lösung auch im letzten Jahr wieder etwas näher gebracht wurde. Sogenannte „Abferkelbuchten“, die die Muttersau unbeweglich festzurren, haben sich bewährt, daneben entwickelt sich ein Verfahren mit mobilen Muttertieren, kompensatorischen Schutzvorrichtungen gegen das Erdrücken von Ferkeln und Laufgängen, in denen unabhängig von der Tageszeit „kurvengetreues Füttern“ erstmals möglich wird. Gemeint sind Computerdiagramme. Für die Mast selbst kommen neben „Spaltenböden“ heute auch „Schrägmistställe“ in Frage, „Breifutterautomaten“ liefern jederzeit das physiologische Optimum, exakte Berechnungen der Lufttemperatur an der Hautoberfläche erlauben es sogar, in rundum geschlossenen „Bettenställen“ natürliche Anpassungsleistungen des Organismus einzusparen und die bisher dafür verbrauchte Futterenergie in das Fleischwachstum umzuleiten.

Erst das lebende Beispiel vollendet das Grauen, das sich freilich nur auf den zweiten Blick einstellt. Die Augen eines Schweines – kluge Augen voller Witz – dürften in dieser Umgebung nicht mehr zu ertragen sein. Dazu ist denn auch kaum Gelegenheit. Lebende Masttiere sind nur von oben zu betrachten, aus sicherer Entfernung zum genau ausgemessenen Verlies, das sie vor dem Transport zum Schlachthof niemals mehr verlassen werden (es sei denn zu einem Ausflug auf die Grüne Woche). Ein Wurf winziger Ferkelchen zieht Trauben von Schaulustigen an. Eine spezielle Gruppe von Tierschützern kümmert sich um Transportschäden von Schlachtschweinen. Sie hat einige Reformvorschläge zu machen und darf Flugblätter verteilen. Nur will sie niemand haben. Die rosa Schweinchen sind allzu süß.

Doch die Aussteller scheinen zu ahnen, daß hier eine Grenze der Landwirtschaft überhaupt erreicht ist. Danach kommt nichts mehr auf den Tisch, es folgt ein kleiner Garten industriell nutzbarer Pflanzen. „Nachwachsende Rohstoffe“ gelten als Zukunftsbranche. Brennstoff, Öl, Fett und gewisse Grundchemikalien lassen sich auch aus Kartoffeln und Getreide erzeugen. Niemand mag sich hier lange aufhalten. Hunger war vielleicht doch der beste Koch, und wer nun so gar keinen mehr hat, daß der Weizen verfeuert wird: der hat wohl erst recht nichts mehr zu lachen.