Doi Moi, kaum Tingh Kong Khai

Während die wirtschaftliche Perestroika in Vietnam große Fortschritte macht, bleibt Glasnost weiter ein Fremdwort / Wann fällt US-Embargo?  ■ Aus Hanoi Bertil Lintner

Noch vor zehn Jahren war Hanoi eine Stadt voll eintönig gekleideter Menschen, die auf Fahrrädern an grauen Wohnblöcken und nüchternen Regierungsgebäuden vorüberfuhren. Heute erlebt die vietnamesische Hauptstadt eine Blüte: Japanische Autos parken vor Hotels, Bars und Nachtclubs. Motorräder haben die Handkarren ersetzt, und die Läden zeigen ein vielfältiges Angebot an einheimischen Waren und Produkten aus China, Thailand und Singapur. Und auch die Menschen sind inzwischen chic gekleidet.

Das wirtschaftliche Wachstum ist in den letzten Jahren im Durchschnitt um sieben bis acht Prozent gestiegen. Viele Beobachter sehen Vietnam bereits auf dem Sprung, Ostasiens nächster „Drache“ zu werden. Nach Jahrzehnten des Experimentierens mit katastrophalen Strategien hat das Land die Tür für Privatunternehmen und ausländische Investitionen weit geöffnet. Die Wende erfolgte schon auf dem sechsten Kongreß der vietnamesischen Kommunistischen Partei im Dezember 1986. Inspiriert vom Reformprozeß in der damaligen Sowjetunion, führte Vietnam seine eigenen Versionen von Glasnost und Perestroika ein: Tingh Kong Khai (Offenheit) und Doi Moi (Erneuerung). Aber anders als die Sowjets waren die Hanoier Kommunisten beim Übergang von der Planwirtschaft zum freien Unternehmertum weit erfolgreicher.

Umgestaltung von unten

Duc Dinh, einer von Vietnams führenden Ökonomen, erklärte den Grund: „In unserem Falle ging es niemals um die Frage einer Reihe schlecht geplanter Direktiven von oben. Wir begannen an der Basis und arbeiteten uns schrittweise nach oben.“ In den städtischen Gebieten begann die Regierung mit der Zulassung privater Restaurants, Läden, Friseurgeschäfte, kleiner Werkstätten und anderer Familienbetriebe. Auf dem Lande wurden 1989 die landwirtschaftlichen Kooperativen abgeschafft, und die Bauern durften ihr eigenes Land bestellen. Die Kooperativen waren im Süden 1978 eingeführt worden – mit katastrophalen Folgen: Zu Zehntausenden flohen die Bauern vom Land. Unter denen, die blieben, machte sich Unzufriedenheit breit.

Nun hat sich die Situation von Grund auf geändert. Ein westlicher Diplomat in Rangun: „Nach nur wenigen Jahren konnten vor allem im Mekong-Delta, Vietnams traditionellem Kornspeicher, Rekordernten verzeichnet werden. Die Menschen konnten sich leisten, neue Häuser zu bauen, Konsumgüter zu kaufen und sich vor allem besser zu ernähren.“ Anfang der 80er Jahre stand Vietnam fast vor der Hungerkatastrophe, heute ist das Land hinter Thailand und den USA der drittgrößte Reisexporteur der Welt. Die Reisexporte übersteigen schon heute jährlich eine Million Tonnen.

Der Gesamtwert der industriellen Produktion nahm 1992/93 um 16 Prozent zu, während die Hyperinflation von 487 Prozent (1989) im letzten Jahr auf erträgliche 30 Prozent zurückging. Viele andere Länder, vor allem aus der asiatisch-pazifischen Region, haben positiv auf die neuen Gesetze über ausländische Investitionen reagiert. Mit Taiwan, Singapur, Japan und Hongkong werden über 60 Prozent des vietnamesischen Außenhandels abgewickelt. An erster Stelle steht Taiwan mit Investitionen von 1,5 Milliarden US-Dollar und mehr als 5.000 Firmenvertretern, die mehr oder weniger ständig in Vietnam leben. Einheimische Fabriken stellen Textilien, Spielwaren, Nahrungsmittel und einfache elektronische Artikel her. „Aber trotz des schnellen Zuwachses der ausländischen Investitionen liegt die Hauptstärke der vietnamesischen Wirtschaft in den 700.000 Familienbetrieben“, sagt Do Duc Dinh. „In den nächsten Jahren erwarten wir zweistellige Zuwächse, oder vielleicht noch höhere als in Thailand.“

Embargo als Hemmschuh

Das größte Hindernis für einen weiteren Wachstumsschub ist das Handelsembargo, das die Vereinigten Staaten unmittelbar nach Kriegsende 1975 verhängten. Vermutungen, die gegenwärtige Clinton-Administration werde das Embargo bald aufheben, haben sich bislang als unbegründet erwiesen: Eine starke Lobby in den USA will Vietnam weiterhin bestrafen, weil es den Amerikanern eine demütigende Niederlage zufügte. Im Juli letzten Jahres kündigte Clinton jedoch an, seine Regierung werde Darlehen der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds und der asiatischen Entwicklungsbank nicht länger blockieren. So konnte Vietnam im November ein Darlehen über 1,86 Milliarden US-Dollar erhalten. Eine Konferenz der Geberländer in Paris kam zu dem Schluß, Vietnam sei „auf dem richtigen Wege“: „Wir begrüßen die Landreformen, Preisreformen, Zinsreformen, Steuerreformen, die stärkere Förderung des privaten Sektors und die Programme zur Behandlung der sozialen Kosten der Anpassung.“ Die ökonomische Umstrukturierung hatte auf die politische Ebene wenig oder gar keine Auswirkungen. Das Land bleibt fest im Griff der herrschenden Kommunistischen Partei, obwohl deren Ideologie heute keine Ähnlichkeit mehr mit der stalinistischen Rhetorik der 60er und 70er Jahre aufweist. Der Grund ist einfach: die Sowjetunion, einstmals Vietnams politisches und wirtschaftliches Ideal, ist zum Alptraum der heutigen Herrscher in Hanoi geworden – was auch erklärt, warum es in Vietnam sehr viel Doi Moi (Perestroika) gab, aber überraschend wenig Tingh Kong Khai (Glasnost) gibt. „Das Chaos in Osteuropa erschreckt sie“, sagte ein Diplomat. „Es ist klar, wie das neue Modell aussehen soll: Wie Singapur – ökonomische Entwicklung bei politischer Stabilität. In diesem Kontext steht die Demokratie auf der Prioritätenliste ganz weit unten.“