: SPD: „Abschied vom Sozialstaat“
Der Bundestag debattiert das „Aktionsprogramm“ der Bundesregierung für Wachstum und Beschäftigte / Arbeitslose sollen ran / Nur noch 80 Prozent Lohn für ABM-Kräfte vorgesehen ■ Aus Bonn Tissy Bruns
Der Wirtschaftsminister ist gewiß kein begnadeter Rhetoriker, doch glückt ihm gelegentlich eine besonders hübsche Wendung. Die Bundesregierung wolle den Arbeitslosen ermöglichen, „den Kontakt zur Arbeitswelt zu halten“, eröffnete Günter Rexrodt (FDP) gestern dem Bundestag. Gemeint: die Heranziehung von Arbeitslosen zur Saisonarbeit, die Teil des von der Bundesregierung vorgelegten „Aktionsprogramms für mehr Wachstum und Beschäftigung“ ist. Rexrodt trug Teil II der Regierungserklärung zu diesem Thema vor, nachdem Finanzminister Theo Waigel seinen Part absolviert hatte. Die Oppositionsparteien waren mit beiden Ministern herzlich uneinverstanden. Ingrid Matthäus-Maier (SPD) hielt der Regierung eine Acht-Punkte-Liste der Minusrekorde vor. Ihr Fazit: Ein Trümmerhaufen.
Das „Aktionsprogramm“ listet 30 Maßnahmen auf, darunter auch längst bekannte. Der erste Abschnitt („Konsolidierung der öffentlichen Haushalte“) enthält die Absichtserklärung, die Bundesregierung strebe für 1994 eine Nullrunde im öffentlichen Dienst an. Ein zinsverbilligtes Kreditprogramm und die Wiedereinführung eines Eigenkapitalhilfeprogramms auch im Westen werden im Abschnitt II „Existenzgründungs- und Innovationsoffensive im Mittelstand“ angekündigt. Zur „Verbesserung und Erweiterung des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums“ werden im dritten Abschnitt sehr unterschiedliche Maßnahmen aufgeführt. So soll der 249h des Arbeitsförderungsgesetzes, der die Maßstäbe für ABM- Zuschüsse weiter faßt, künftig auch in strukturschwachen Westregionen angewandt werden. Gleichzeitig werden die ABM- Löhne auf 80 Prozent der Tarifeinkommen begrenzt. „Auf freiwilliger Basis“ sollen Arbeitslose zu Gemeinschaftsarbeiten veranlaßt, Arbeitslosenhilfebezieher können zu Saisonarbeiten herangezogen werden. Die private gewerbliche Arbeitsvermittlung wird zugelassen. Das Teilzeitarbeitsplatz-Angebot soll erweitert werden, der öffentliche Dienst soll Beispiele schaffen. Die Beschäftigung von Schwarzarbeitern führt künftig zum Ausschluß von öffentlichen Aufträgen.
Abschnitt IV soll erst in der nächsten Legislaturperiode stattfinden. Angekündigt wird hier u.a. die vom Verfassungsgericht schon längst geforderte Freistellung des Existenzminimums von der Lohnsteuer, die vor allem für Familien mit Kindern dringlich wäre. Die Schaffung regulärer Arbeitsverhältnisse in privaten Haushalten soll erleichtert werden, was die SPD gern (und unzutreffend) als „Dienstmädchenprivileg“ verurteilt. Das Fazit über den 30-Punkte-Katalog lautete für den SPD- Sozialexperten Dreßler: „Ein wirres Sammelsurium unzusammenhängender Einzelmaßnahmen“ und „Abschied vom Sozialstaat“.
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