Die Grimmlins

■ Einmal in Marl. Nachdenkliche Notizen aus dem Club der schnellen Sichter

Alle reden vom Wetter. Er auch. Jörg Kachelmann, Wetterfrosch vom ARD-„Morgenmagazin“, hat das monotone Ritual der Wettervorhersage zwanglos zur neuen Kunstform transzendiert. Derweil seine Rede sich in frei flottierenden Zeichengruppen ergeht, gerät die Wetterkarte unter seinem hektischen Gestikulieren endlich zu dem, was sie je schon war: ein abstraktes Gemälde.

Da „wuppselt es blumenkohlmäßig“, und zuweilen ist das „Wetter so schlecht, daß auch Kurzsichtige den Horizont sehen können“. Manchmal hat er einen Blackout: „Ich habe so viel mit Feuerstein geredet ...“ Und das witzigste an seiner profanen Orakelei ist, daß der 34jährige Schweizer kein Kabarettist, sondern tatsächlich Meteorologe ist. Aus dem eintönigsten aller Sende-Rituale, dem Wetterbericht, hat er durch das Einbringen seiner Person eine Programm-Innovation gestaltet, angesichts derer man durchaus die Auffasung vertreten kann, daß das Fernsehen nicht mehr vollkommen überflüssig ist.

Leider sah das die Nominierungsjury des 30. Adolf-Grimme- Preises nicht so. Jörg Kachelmann kam trotz heftigster Fürsprache nicht unter die letzten 20, aus denen die Endjury bis 18. März den Spezialpreis ermittelt haben wird. Halbwegs zu verschmerzen ist dieser Verlust allein deswegen, weil ein anderer Diskurs-Anarchist noch im Rennen ist: Da die Endjury nach wie vor aus honorigen Medienkritikern älteren Semesters besteht, ist die Vorstellung amüsant, wie die Damen und Herren die Nominierungsliste in die Hand bekommen, um sich verdutzt zu fragen: Wer zum Grimme ist Werner Hansch?

Eine ähnlich gelagerte Frage stellte sich auch mir. Wer Adolf Grimme eigentlich war, erfuhr ich erst, nachdem ich in die Nominierungsjury des nach ihm benannten deutschen „TV-Oscars“ berufen wurde. 13 Juroren begutachteten dort an 13 Tagen von morgens um halb zehn bis abends um acht insgesamt 360 deutsche Fernsehsendungen. Das fängt ganz freundlich an. Man sitzt mit netten Menschen in einem Zimmer und schaut Fern. Nach und nach realisiert man dabei, daß das Ganze einem mentalen Selbstversuch gleichkommt.

Als wieder einmal einer jener Dokumentarfilme angespielt wurde, wo zu trauriger Chopin- Musik Bilder der polnischen Ostseeküste dräuten (Text: „Die Vasallen kamen 1385 über den Kaukasus ...“), ergriff ich die Gelegenheit: Auf der letzten Seite einer neben den Käsehäppchen plazierten Broschüre war in einer Kurzbiographie zu lesen, daß Adolf Grimme bis Ende 1948 niedersächsischer Kultusminister und danach bis 1955 erster Generaldiektor des NWDR war. Der Urvater des deutschen Fernsehens also.

Der nach ihm benannte Preis wurde 1961 in Berlin gestiftet und 1964 erstmals in Marl vergeben, wo seit 1973 das ebenfalls nach ihm benannte Grimme-Institut beheimatet ist. Ansonsten ist Marl der Ort, an dem man nicht einmal begraben sein möchte. Vorzüglich ist nur die Unterbringung im altehrwürdigen Hotel Loemühle. Dort erschien mir eines Nachts der Geist von Adolf Grimme. „Fürchte dich nicht“, rief er mir zur, „die rechte Entscheidung triffst du, sobald du dein Herz befreit hast von dem Zwange, den Preis zu vergeben an aramäische Schwarzweiß-Pantomime aus dem Nachtstudio. Was wir brauchen, ist Poesie.“

Es folgte eine Bildstörung, und ich erwachte. Obgleich am nächsten Tag keiner darüber reden wollte, spricht alles dafür, daß dieser Geist auch den anderen Juroren erschienen ist. Die diesjährige Liste der nominierten Titel gibt durchaus Grund zur Hoffnung. Obgleich der Weg der Ausscheidung steinig war. Wir mußten durch „Die Hölle von Ueckersmünde“, ertrugen „Jux und Dallerei“, schnupperten „Die Erotik des Erfolges“, wurden „Von Ufos entführt“ und waren am Ende „...Wieder ein Tag näher am Grab“.

Nach dem Abendessen wurde die Unterhaltung gesichtet. Um eine authentische Rezeptionssituation zu gewährleisten, wurde peinlich darauf geachtet, daß es den Juroren nicht an alkoholhaltigen Getränken, Chips und Pistazien mangelte. Am Morgen danach der Kater: Das deutsche Bildungsfernsehen. Es ist zuweilen schlicht katastrophal. Es dominiert der Tiefsinn und eine seltsame Serialität sowohl bei der Themenwahl als auch bei der Gestaltung. Mindestens fünf Filme portraitierten den italienischen Mafiajäger Leoluca Orlando. Und jeder vierte Dokumentarfilm war mit derselben Musik unterlegt: „Fahrstuhl zum Schafott“ von Miles Davis. „Früher war es Eric Satie“, merkte einer der wenigen Alteingesessenen Juroren an. Dafür ging die Christian-Brückner- Quote (Edelsprecher von Robert De Niro) deutlich zurück.

Angesichts der geballten Schwermut versetzte Rainer Langhans' Dokumentation „Schneeweißrosenrot“ die Jury in Verzückung. Ein abgedrehter Bilderreigen über ein Zwillingspaar aus der Kasseler Provinz, von denen eine in die Kommune K1 einzieht und die andere den Milliardärsenkel Paul Getty III heiratet. Mitfavouriten sind Mischka Popp und Thomas Bergmann, die mit „Herzfeuer“ dokumentierten, wie Kurzweil und Tiefsinn auf formal neuen Wegen erreichbar ist.

Von den 13 Titeln aus dem Bereich TV-Journalismus und Kultur ragt „Netze der Angst. Expedition ins Reich der Spinne“ heraus, ein Tierfilm im Greenaway-Stil. „Calcio Storico“ ist eine Dokumentation über eine italienische Abart des Fußballs, deren einzige Regel die ist, daß man seinen Gegner nicht vorsätzlich umbringen darf. Der Beitrag, einer von insgesamt fünf nominierten Titeln des Hamburger Pay-TV-Kanals „Premiere“, ist zugleich der Beleg, daß innovative Impulse – „Zapping“, „Die vierte Dimension“, „Show Bizz“, „Willemsen das Fern(seh)gespräch“ – auch von den Privaten ausgehen können.

Derweil geizte auch das öffentlich-rechtliche Programm nicht mit Mittelmaß. In weiser Voraussicht hatte das Grimme-Institut die Sichtungsperioden ausreichend kulinarisch flankiert. Kollektiv stürzte die Jury zurück in die orale Phase. In meditativer Hingabe wurden Apfelsinen geschält, Joghurtbecher ausgelöffelt, Torten und Salzletten vertilgt. Derweil folgten Filme über doppelköpfige, debile und dichtende Menschen. Und immer wieder – traurig bin ich sowieso – die polnische Ostseeküste, unterlegt mit russischen Chören. Das gibt einem den Rest.

Trotzdem haben wir, wie man es uns beigebracht hat, über jeden Film artig diskutiert. Zwischen elf Sekunden (Wer ist dafür? Keiner. Der nächste“) – und einer Stunde: zum Beispiel über „Beruf Neonazi“ von Winfried Bonengel. Wobei das größte Problem war, zu ermitteln, wie dieser Film in der Liste auftauchen konnte, obwohl er gar nicht ausgestrahlt wurde.

Irgendwann ist der Kanal voll, und man weiß wirklich nicht mehr, ob man einen Film über die Sexualität von querschnittsgelähmten Frauen überhaupt schlecht finden darf. Wie Alexander Delarge in Kubicks „Uhrwerk Orange“ saß man gefesselt in einer moralischen Zwangsjacke und inhalierte pflichtbewußt alles Elend dieser Welt. Und unsere Welt ist wirklich schlecht ... Langsam verstehe ich, wie Helmut Thoma (Geschäfts- und Marktführer von RTL) denkt: „Wenn Bosnien den Bedarf an Action deckt, brauchen wir in den Serien mehr Gefühl als Gewalt.“

Kam das Schicksal allzu hart, so half nur noch das klärende Machtwort von Sybille Simon-Zülch, um die Jury aus der argumentativen Paralyse kollektiver Betroffenheit zu erlösen. Als Folge sinnlicher Überreizung ist es zu bewerten, daß es irgendwann zu einem Komplott gegen den hier Berichtenden kam, dergestalt, daß einige Jurymitglieder sich weigerten, in seinem Wagen mitzufahren: Angeblich war er zu schmutzig. Es lag das Zellophanpapier eines Schokoriegels auf dem Boden. Manfred Riepe