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Eine gigantische Tiefkühltruhe

Durch die Taiga auf der längsten Eisenbahnstrecke der Welt zwischen Chabarowsk und Irkutsk  ■ Von Donata Riedel

Der Ami, Ende 50, fällt auf. In Cowboystiefeln, Jeans, Jeanshemd und Texashut betritt er den Wartesaal im Chabarowsker Hauptbahnhof. Bevor der Zug Nr. 7 nach Moskau, aus Wladiwostok kommend, einfährt, kauft er acht Flaschen Pepsi am Büffet. „Wer weiß schon“, sagt er zu seiner russischen, ungefähr gleichaltrigen Begleiterin, „ob es bis Irkutsk noch irgendwo Cola gibt.“ Kurz darauf schieben sich die beiden zwischen russischen Familien und chinesischen Händlern auf den Bahnsteig und verschwinden im Waggon erster Klasse.

In meinem Abteil sitzen bereits drei ziemlich wild aussehende Männer, unrasiert und mit dunklen Sonnenbrillen. „Oh Gott, mit denen zweieinhalb Tage in einem Abteil“, denke ich – als zwei der Typen wieder aussteigen und ein schmächtiger junger Mann sich statt ihrer ans Fenster setzt. Wolodja fährt auch nach Irkutsk, er hat in Chabarowsk seine Eltern besucht. Rassim mit der Sonnenbrille verschwindet erst einmal im Waschraum, um sich zu rasieren. Die Sonnenbrille, erklärt er später, trage er nur, weil er bei einem Boxkampf ein blaues Auge davongetragen habe; er nehme in ganz Sibirien an den Wettkämpfen in der Altherrenklasse teil. Und seine Freunde seien deshalb so muffelig gewesen, weil sie alle am Abend vorher zum Abschied ein wenig getrunken hätten.

Der Zug überquert den Amur. Hier bei Chabarowsk, mehr als 500 Kilometer vor seiner Mündung ins Japanische Meer, ist der Grenzfluß zwischen Rußland und China breit wie die Elbe bei Cuxhaven. Nicht zuletzt die schwierigen Brückenbauarbeiten über den Amur hatten die Eröffnung des letzten Bauabschnitts der Transsib bis 1916 verzögert. Hinter der Brücke beginnt die Taiga, „ein gewöhnlicher Wald aus Zedern, Pinien, Lärchen, Birken und Fichten“, wie Anton Tschechow meinte. „Seine Stärke und Magie liegen nicht in der Größe seiner gigantischen Bäume und auch nicht in der tödlichen Stille, sondern eher in der Tatsache, daß vielleicht nur die Vögel allein seine Grenzen kennen.“

Bis zum Baikalsee sieht man nur Wälder und Wiesen, Wiesen und Wälder, ab und zu einen Fluß, ab und an Hügel und gelegentlich einen See. Der Zug rattert mit gleichbleibender Geschwindigkeit dahin. Alle vier bis fünf Stunden hält er im Russischen Fernen Osten, wie die 2.000 Kilometer Einsamkeit zwischen dem Japanischen Meer und Ost-Sibirien heißen, in immer kleiner werdenden Städten und Dörfern; Orte der Verbannung zumeist.

Die unwirtliche Einöde rund um die Stadt Birobidschan – der Zug hält dort für drei Minuten – ist seit 1934 Jüdisches Autonomes Gebiet. „Die Juden müssen also gar nicht aus Rußland auswandern, sie haben doch hier ihren eigenen Boden“, meint Wolodja. Die Zuerkennung dieses Bodens geht auf Stalin zurück, der Zigtausende Juden in das entlegene Gebiet an der chinesischen Grenze deportieren ließ. Von der jüdischen Bevölkerung der Ex-UdSSR leben dort heute nicht einmal vier Prozent, und neun von zehn Birobidschaner sind nichtjüdische Russen und Ukrainer.

Der Speisewagen ist Treffpunkt für Westler. Außer dem auffälligen Ami vom Chabarowsker Bahnhof und den vier Serviererinnen sitzt dort am späten Nachmittag nur ein Burjate aus Irkutsk, der Wodka in großen Zügen aus einem Wasserglas in sich hineinschüttet. Zu essen gibt es Frikadelle mit Nudeln, zu trinken weder Tee noch Kaffee – dafür Pepsi-Cola in unerschöpflichen Mengen. Roy ißt bereits die zweite Frikadelle und hat die dritte Pepsi-Flasche vor sich. Sein Marlboro-Look, erzählt er, sei mit Bedacht gewählt, damit auch wirklich jeder ihn als Ami identifizieren könne.

Roy ist Psychologie-Professor aus Michigan. Für einige Monate hat er einen Gast-Lehrauftrag an der Uni in Chabarowsk angenommen. Vermittelt hat ihn Galina, Englischprofessorin an eben jener Uni, die vor einem Jahr einen ebensolchen Auftrag an der Uni von Michigan wahrnahm. Galina ist nicht mit in den Speisewagen gekommen. „Sie hat mir gleich gesagt, daß das Essen in russischen Speisewagen heutzutage eine Katastrophe sei“, sagt Roy. Eine ähnliche Warnung hatte auch Wolodja in meinem Abteil ausgesprochen. Die russischen Familien, die Mehrheit in dem fast ausgebuchten Zug, bleiben ebenso in ihren Abteilen wie die chinesischen Händler, die mit riesigen Bündeln und Paketen reisen.

„Eher durch Zufall“, erzählt Roy, „habe ich in Chabarowsk einen ehemaligen KGB-Offizier kennengelernt.“ Dieser Mann habe ihm erzählt, daß während des Koreakrieges 1950 etliche US- Aufklärungsflugzeuge abgeschossen worden wären. Die Piloten seien in sibirischen Lagern festgehalten worden – über Jahre und Jahrzehnte. Einige hätten sich dann in sibirischen Dörfern angesiedelt, hätten geheiratet und Kinder bekommen. Diese Männer und ihre Nachkommen will Roy ausfindig machen. „In den USA wird doch strikt geleugnet, daß jemals Amerikaner in sibirischen Lagern geschmachtet haben“, sagt er. Seine Reise nach Irkutsk hat den Zweck, einen weiteren Geheimdienstmann aufzusuchen – und möglicherweise wegen seiner Tracht in einem der Dörfer, wo der Zug hält, von irgendeinem verschollenen Landsmann angesprochen zu werden.

Aber an den Haltepunkten wird Roy lediglich von Handel treibenden alten Frauen angesprochen: „Möchten Sie frische Bratkartoffeln, eingelegte Gurken? Oder lieber Pfannkuchen und frische Himbeeren? Brauchen Sie Brot? Es ist ganz frisch.“ Wir kaufen reichlich, in den Abteilen wird getafelt, kaum daß der Zug wieder anfährt. Heißes Wasser für Tee oder Nescafé gibt's immer aus dem Samowar am Ende des Waggons.

Wolodja und Rassim drängen mich, nur ja reichlich zu essen. Es sei doch genug von allem da, und die Gurken, von Wolodjas Mutter selbst eingelegt, seien viel besser als alles, was es an den Bahnsteigen zu kaufen gebe – was stimmt. Und weil weder Wolodja noch ich Wodka trinken wollen, besorgt Rassim bei den chinesischen Händlern im Nachbarwaggon chinesisches Bier für alle.

Während die Schaffnerin Musikkassetten von Queen, den Beatles und dem russischen Liedermacher Wysozki über die Lautsprecheranlagen des Waggons laufen läßt – die Lautstärke ist im Abteil regulierbar –, erzählen wir über unsere Familien, Berufe und die unterschiedlichen Lebensumstände in unseren Ländern. Daß ein taz-Gehalt in Rußland wechselkursbedingt ein Vermögen, in Deutschland aber keinesfalls die Eintrittskarte zum Konsumparadies sei. Daß die Frage, ob das Leben in Rußland heute schwieriger zu meistern sei als früher, falsch gestellt sei. „Natürlich“, sagt der Bautechniker Wolodja, „hätten die meisten von uns gerne etwas mehr von der alten Sicherheit behalten, aber vermutlich heute nicht mehr um den Preis der neuen Freiheit.“ Die jungen Leute hätten jetzt bessere Chancen als früher. Aber für die Alten wäre es schlimm. „Meine Eltern sind überhaupt nicht glücklich, daß sie heute auf Unterstützung von meinem Bruder und mir angewiesen sind“, sagt Wolodja.

Rassim, er ist 48 Jahre alt und als Afghanistan-Veteran Frührentner, hofft vor allem, daß es in Rußland keinen Krieg mehr gibt. „Solange Frieden ist, kommt man doch immer irgendwie durch“, meint er, der als Jugendlicher mit seinen Eltern aus Georgien nach Sibirien kam.

Über der Taiga geht langsam die Sonne unter. In der langen Sommerdämmerung steigt sachte Nebel aus den Wiesen auf. Er färbt sich von gelb über orange bis lila. Die Bäume tauchen wie geisterhafte Schemen aus dem Nebel auf. Die Schaffnerin bringt Bettwäsche und kassiert von jedem dafür 200 Rubel (35 Pfennig). Wir rollen die futonartigen Matratzen auf den Ledersitzbänken aus und bauen Betten. Das Rattattataa der Räder lullt ein.

Am nächsten Morgen hält der Zug im Irgendwo. Dreißig Bretterbuden, ein kleiner See, ein morastiger Weg liegen neben dem Gleiskörper. Nur die Bahn ist elektrifiziert. Die Reisenden, allen voran Wolodja, stürmen auf die Bäckerei zu. Dort stehen die Frauen aus dem Dorf Schlange, in notdürftig geflickten Kleidern, barfuß die meisten. Schon den jüngeren fehlen Zähne. „Skorbut“, flüstert Wolodja mir zu. Die Reisenden drängen sich vor. „Unser Zug fährt gleich, laßt uns zuerst kaufen.“ – „Damit für uns wieder nichts üb

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rigbleibt? Wir warten schon seit zwei Stunden“, kreischt eine Frau. Trotzdem setzen sich die Reisenden durch.

Galina, die Professorin aus Chabarowsk, fährt zum ersten Mal diese Strecke: „Hier sieht es ja aus wie im Mittelalter; daß es solche Armut bei uns noch gibt...“ Sie will mit dieser Reise Roy einen Gefallen tun. Auch wenn sie seine Geschichte über die Kampfpiloten nicht glaubt. „Der alte Mann war doch bloß froh, daß Roy ihm intensiv zugehört hat. Wer weiß, ob der überhaupt beim KGB war“, lästert sie. Normalerweise nimmt sie für lange Strecken das Flugzeug. Auch Wolodja ist früher zu seinen Eltern geflogen. „Heute aber ist das zu teuer geworden“, sagt er.

Das frisch duftende Brot, das Wolodja zum Frühstück in dem armen Dorf erkämpft hat, schmeckt nicht so recht. „Diese Landschaft“, sinniert Roy, „ist doch ein perfektes Gefängnis.“ Bis auf die Transsib-Strecken sind auf der Karte östlich des Baikalsees keinerlei Verkehrsverbindungen eingetragen. Wege und unbefestigte Pisten sehen wir nur in nächster Nähe der kleinen Dörfer. Zwischen den Wiesen und Wäldern türmt sich Gebüsch zum undurchdringlichen Hindernis, reißende Bäche und gewaltige Flüsse überbrückt allein die Bahn. Der Sommer hier ist kurz, acht Monate im Jahr ist Sibirien, das „schlafende Land“, eine gigantische Tiefkühltruhe. Zu Fuß durch die Wildnis käme man in einem Sommer von hier aus nicht bis zur nächsten Stadt.

Schon die Zaren machten sich die natürlichen Gegebenheiten zunutze. Zwischen 1800 und 1914 ließen sie mehr als eine Million Menschen nach Sibirien und in den Fernen Osten verschleppen. Über die Haftbedingungen dachte der Zar damals höchstselbst nach. So ließ er die Dekabristen nach ihrem Aufstand gegen sein Regime zunächst nach Tschita verbannen. In den 1830ern entwarf er dann ein fensterloses Gefängnis, das in der Taiga errichtet wurde. Der Ort heißt nach ihm fortan Petrowskij Sawod, Peters Fabrik. Der Zug erreicht ihn am nächsten Morgen. Aus sowjetischer Zeit steht noch ein großes Denkmal für die Dekabristen auf dem Bahnsteig, die posthum zu Helden der Oktoberrevolution gemacht wurden. Rundherum zerbröseln die Stufen.

Zwischen Tschita und Ulan- Ude, der Hauptstadt der Burjatischen Autonomen Republik, wird die Besiedlung langsam dichter. Auf der Strecke von Ulan-Ude nach Irkutsk fahren jetzt auf Nebengleisen lange Güterzüge, beladen mit Holz, mit Getreide oder auch mit Ölfässern. Es gibt wieder Straßen, Autos und Steinhäuser – aber auch die Ruinen verlassener Fabriken, umgeben von riesigen Öllachen.

Kurz vor Irkutsk ändert sich die Landschaft. In einer großen Schleife umrundet die Transsib die Südspitze des Baikalsees, des größten Trinkwasserreservoirs der Welt, der wegen seiner Tiefe weitaus mehr Wasser enthält als die Ostsee. Wolodja zeigt auf die rauchenden Schlote der Zellulosefabrik, deren Abwässer den See an den Rand des Umkippens brachten. „Nach Protesten aus ganz Rußland haben sie die Produktion inzwischen zurückgefahren“, sagt er. Stillgelegt aber ist die Dreckschleuder noch nicht, es hängen ja, sagt Wolodja, über 3.000 Arbeitsplätze daran.

Nach zweieinhalb Tagen Taiga stehen alle am Fenster, als der Zug zum langen Anstieg des Baikalgebirges ansetzt und immer neue Blicke auf die Wasserfläche freigibt. Irkutsk erreichen wir um Mitternacht. Roy hat noch drei Flaschen Pepsi übrig, und kein verschollener Kampfpilot hat ihn angesprochen.

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