„Spiele vermitteln stets Toleranz“

Ein Gespräch zur Spielkultur mit Jürgen Jendrich, Spiele-Redakteur und Leiter des Produktbereiches Kinder beim Ravensburger Verlag, über Akquisition und Veränderungen  ■ Von Franco Foraci

taz: Welchen Einfluß haben ausländische Spieletraditionen auf die redaktionelle Bearbeitung von Gesellschaftsspielen in Deutschland?

Jürgen Jendrich: In Europa läßt sich in verschwindend kleinen Ansätzen eine romanische Spieletradition ausmachen, es gibt sicher auch so etwas wie eine teutonische, und auf jeden Fall existiert rudimentär noch eine angelsächsische Tradition. Viel wichtiger und interessanter auf dem Spielemarkt ist aber in den vergangenen vier Jahrzehnten alles, was aus Übersee – Nordamerika und Kanada – kommt. Diese beiden Länder prägen ganz entscheidend auch die heutigen Spielformen Europas. Einfach, weil sehr große Companies in diesem Geschäft amerikanischen Ursprungs sind. Sie haben Einfluß auf die Auswahl von Spielideen bei uns, weil sie mit ihren Produkten unheimlich erfolgreich, das heißt mittlerweile sogar marktbeherrschend sind.

Hat die Amerikanisierung der Gesellschaft die Spielkultur in Europa radikal verändert?

Ja. Denn die Entwicklung hin zu konsumorientierten Medien- und Massengesellschaften hat auf dem europäischen Spielesektor dazu geführt, daß traditionelle, ländertypische Brett- und Legespiele beispielsweise durch moderne elektronische Spiele in der Beliebtheit abgelöst wurden. Wenn man so will, begann mit den sogenannten Comics der „Anfang vom Ende“ europäischer Spielkultur, die wiederum keine eigene gewesen ist, sondern eine vor vielen Jahrhunderten aus anderen Kontinenten wie Asien und Afrika importierte.

Während wir bis in die fünfziger Jahre noch mit relativ braven Bilderbüchern konfrontiert wurden, waren die amerikanischen Kinder schon ganz andere Dinge gewöhnt, wie beispielsweise Walt Disneys zum Leben erweckte Charaktere. Daß damit die Kinder völlig sehr viel martialischeren Geschichten aufwachsen, hat sich letztendlich auch auf die Gestaltung später vertriebener Spiele ausgewirkt.

Mit den Comics entstanden völlig neuartige Spielideen, die sich einige Jahre später wegen der starken Dominanz der amerikanischen Wirtschaft auch in Europa durchgesetzt haben. Zu Spielen umfunktionierte Raumfahrtabenteuer, wildeste Animationen aus Kinogeschichten und kleine mechanische Wunderwerke beherrschten damals die Spielzeugwelt amerikanischer Kinderzimmer. Seitdem fristen die klassischen Brettspiele aus der Alten Welt: Dame, Mühle, Schach usw., nur noch ein kümmerliches Dasein.

Eine Ausnahme unter den Brettspielen bildet hierbei das Spiel Monopoly, das auch in den Staaten entwickelt wurde. Es ist heute auch Bestandteil unserer Kultur. Das Spiel wird von allen, vom Intellektuellen bis zum Bandarbeiter, akzeptiert und gekauft.

Schauen Sie sich auch in Asien, Afrika und auf anderen Kontinenten nach Spielen um?

Aus welcher kulturellen Tradition ein Spiel stammt, ist für uns unerheblich. Wir haben Spiele- Autoren aus aller Welt, die wir ansprechen können oder die uns Ideen anbieten. Wir brauchen nicht mehr viel herumzureisen, um neue Spiele zu entdecken. Leider rührt sich in diesem Zusammenhang in asiatischen und afrikanischen Ländern, aber auch in südamerikanischen Staaten sehr wenig. Die meisten Brettspiele aus diesen Kulturen, die wir übernommen haben, gehören seit Jahrhunderten zum europäischen Spiele- Inventar.

Ich selbst fahre für unseren Verlag zweimal im Jahr nach Amerika, wo eine unermeßliche und unvergleichliche Fülle kreativer Ideen herkommt. Hervorragende Autoren finden sich auch in großer Zahl in Israel. Strikte Kriterien für die Auswahl von Spielen gibt es nicht. Erlaubt ist, was gefällt und logisch ist.

Was ist für Sie das Typische an dem deutschen Sprachraum und seinen Spielen?

Das, was wir hier – gerade in unserem Verlag – als Familienspiele bezeichnen, ist ein Phänomen, das sehr stark auf den deutschsprachigen Raum begrenzt ist. Typisch deutsch ist, daß Vater, Mutter, Tochter, Bruder, die Familie gemeinsam am Spieltisch sitzen und sich von der Spielsituation beeinflußt und losgelöst vom Fernseher unterhalten. Wenn jeder dabei vielleicht ein bißchen lernen kann, ist der Spielspaß in Deutschland perfekt. Diese deutschen Ansprüche am Spiel haben sich lange Jahre gehalten. In Deutschland geht es weniger verspielt, sondern mit viel mehr ernst beim Spiel zu als anderswo.

In Italien zieht sich die Familie nicht so zurück, um zu kommunizieren. Die Italiener reden lieber miteinander, als daß sie sich zu einem Gesellschaftsspiel treffen. Was sich dort die letzten zwanzig Jahre etabliert hat, haben Kinder unter sich gespielt. Spiele in Italien sind mehr am Geschmack der Kinder orientiert statt wie hier am intellektuellen Anspruch der Erwachsenen. Der Spaßimpuls steht hier mehr im Vordergrund als der Lernimpuls. Aber auch die Deutschen beginnen sich zu wandeln.

Könnten Sie sich in Deutschland Spiele vorstellen, die wie die Öko-Varianten die multikulturelle Gesellschaft schmackhaft machen sollen?

Ich glaube grundsätzlich, daß alle Kommunikationsspiele, in denen über Lebensinhalte geredet wird, solche Gedanken positiv befruchten. Unser Verlag vertreibt zum Beispiel das Spiel „Lifestyle“. Dieses Spiel macht sicher nicht an der Grenze von Deutschland halt. Jedes Spiel beinhaltet irgendwo diese multikulturelle Gesellschaft, die wir überall geworden sind, weil man in diesen Spielen immer in eine Rolle schlüpft. Und weil man immer aus sich heraustritt und dabei auf irgendeine Art und Weise soziales Verhalten einübt. Spiele, die den oder die Gegner respektieren, vermitteln stets Toleranz. Automatisch. Wer aber nur noch mit Computern und kleinen Geräten allein spielen kann, der lernt die anderen nicht kennen und respektiert sie weniger.