Ein GAU – oder Chance für einen Lernprozeß

Erdbeben in L. A., sibirische Zustände im Osten: Wie Amerika lernt, mit der Katastrophe zu leben  ■ Von Andrea Böhm

„It never rains in Southern California“ – dieser Refrain aus guten alten Zeiten repräsentiert derzeit das einzige, was die Bewohner Südkaliforniens unter der Rubrik „Lebensqualität“ eintragen können. Bei strahlender Sonne und Temperaturen um die 25 Grad inspizierte am Donnerstag US-Präsident Bill Clinton mitsamt Krisenstab Häuserruinen, zerstörte Wasserrohre und eingestürzte Autobahnbrücken – Folgen des Erdbebens, das am Montag morgen um 4:31 Uhr Los Angeles und seine unendlich ausgedehnten Vorstädte erschütterte. 46 Tote werden inzwischen gemeldet, 4.200 Verletzte, rund 15.000 Menschen sind vorerst obdachlos.

Die „Angelenos“, an denen in den letzten zwei Jahren kaum eine Katastrophe vorbeigegangen ist, registrierten die prompte Reaktion der Bundesregierung in Washington mit Dankbarkeit. Man rechnet Clinton hoch an, daß er sich schneller im Katastrophengebiet sehen ließ als seinerzeit George Bush nach den Ausschreitungen und Plünderungen im Mai 1992; und man glaubt und hofft, daß das Krisenmanagement unter der neuen Regierung besser funktioniert als unter der alten. Zumindest während und nach der Flutkatastrophe im mittleren Westen im Sommer letzten Jahres zeigte sich die Clinton-Administration durchaus in der Lage, schnell und vergleichsweise unbürokratisch zu reagieren.

Am Montag nachmittag, unmittelbar nach dem Erdbeben der Stärke 6,6 auf der Richter-Skala, hatte Clinton Südkalifornien zum Katastrophengebiet erklärt und damit die rechtliche Voraussetzung für Soforthilfe aus Washington geschaffen: Einzelpersonen können nun finanzielle Überbrückungshilfe erhalten; Kleinbetriebe haben Anspruch auf Kredite bis zu 100.000 Dollar. Für viele ist diese Hilfe von existentieller Bedeutung, denn nur jede/r vierte in Los Angeles ist gegen Schäden durch Erdbeben versichert. Gerade weil die Stadt in einem Erdbebengebiet liegt, setzen die Versicherungsgesellschaften die Eigenbeteiligung enorm hoch an. Insgesamt wird der Sachschaden auf 15 bis 30 Milliarden Dollar geschätzt. Mindestens 200 der 650 Schulen im „Los Angeles Unified School District“ sind vorerst gesperrt. Schäden an Gas-, Wasser- und Stromleitungen hofft man schnell beheben zu können. Am härtesten ist das Straßen-und Autbahnnetz betroffen – in einer Stadt, die ihr Schienennahverkehrssystem in den fünfziger Jahren faktisch ausradierte. Übrig blieben ein Bussystem, das in Los Angeles nur benutzt, wer sich kein Auto leisten kann, und ein kontinuierlich wachsendes Spinnennetz von Autobahnen, das heute über 600 Kilometer lang ist. An sechs Stellen ist das Netz nun durchbrochen: Auf dem Santa Monica Freeway, der verkehrsreichsten Autobahn der Welt und wichtigsten Ost-West-Achse der Stadt, sowie auf dem Golden State Freeway, der wichtigsten Nord-Süd-Strecke des Bundesstaates, sind Überführungen eingestürzt. Zwei weitere Autobahnen in unmittelbarer Nähe des Epizentrums des Erdbebens im nördlich gelegenen San Fernando Valley sind bis auf weiteres ebenfalls gesperrt.

Damit hat für die Autostadt Los Angeles mit einem Einzugsgebiet von 14 Millionen Menschen der verkehrstechnische GAU begonnen – oder, je nach Standpunkt, ein Lernprozeß historischen Ausmaßes. Die nötigen Reparaturarbeiten werden vermutlich ein Jahr in Anspruch nehmen. Bis dahin müssen sich die Angelenos an Unvorstellbares gewöhnen: U-Bahn- Fahren (vor kurzem wurden zwei Kurzstrecken in der Innenstadt in Betrieb genommen), S-Bahnen (unbemerkt von 97 Prozent aller Pendler hat die Stadt in den letzten Jahren begonnen, den Schienenverkehr wiederzubeleben) oder car pooling (80 Prozent aller Pendler fahren bislang allein zur Arbeit und wieder nach Hause).

Mit dem Verkehrschaos fertig zu werden ist eine Sache; die scheinbar unendliche Serie von Katastrophen zu bewältigen eine andere. Wahrsager, AstrologInnen und Psychic Hotlines (Telefonnummern, unter denen man sich gegen Honorar die Zukunft weissagen lassen kann) haben derzeit in Kalifornien Hochkonjunktur – nicht nur weil an der Westküste Intuition, vibrations und Mystik immer schon höher geschätzt wurden als in anderen Teilen des Landes.

Mit Ratio allein wollen und können sich viele Kalifornier die Serie von Tiefschlägen und Katastrophen nicht mehr erklären, die in den letzten Jahren über sie hereingebrochen ist: Da war das Erdbeben von Loma Prieta, bei dem 1989 im Großraum San Francisco dreiundsechzig Menschen starben; 1991 zerstörten Großbrände in den Oakland Hills Tausende von Häusern; ein Jahr später starben in Los Angeles dreiundfünfzig Menschen während des Aufruhrs und der Plünderungen, die dem Freispruch von vier weißen Polizisten im ersten Rodney-King-Prozeß gefolgt waren; 1993 richteten Flächenbrände in Südkalifornien Schäden in Höhe von über einer Milliarde Dollar an – gefolgt von mehreren Erdrutschen.

Das permanente Krisenmanagement belastete einen Bundesstaat noch mehr, der während der Rezession bereits tief in die Krise gerutscht war und zeitweilig den staatlich Angestellten am Monatsende kein Gehalt, sondern nur noch Schuldscheine in die Hand drücken konnte.

Kalifornien ist mehr denn je auf Bundeshilfe angewiesen – und bringt damit den Präsidenten in ein Dilemma. Clinton hatte dem US- Kongreß bereits letzten Sommer nach der Überschwemmungskatastrophe am Mississippi über den festgelegten Haushalt hinaus Mittel für die betroffenen Bundesmittel abgerungen. Tut er dies im Fall Kalifornien erneut, wird das Haushaltsdefizit weiter erhöht. Clinton verließ die Stadt jedenfalls mit dem Versprechen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um Finanzhilfen lockerzumachen – und begab sich auf den Weg ins nächste Krisengebiet: In der Hauptstadt Washington war am Donnerstag wegen arktischer Temperaturen der Energienotstand ausgerufen worden. Geschäfte, Banken, Behörden, Ministerien, Schulen und Universitäten wurden geschlossen, um den drohenden Zusammenbruch der Stromversorgung zu verhindern.

Lieber auf wackligem Boden als in der Kälte, lautete denn auch die sarkastische Devise einiger Angelenos. Wenige Tage nach dem Erdbeben suchen und finden sie immer wieder das Gute inmitten des Desasters. Man trauert um die Toten und zeigt sich gleichzeitig erleichtert, daß sich die Katastrophe in den frühen Morgenstunden eines Feiertags und nicht während des Berufsverkehrs an einem Arbeitstag ereignete. Man registriert zertrümmerte Häuser, Filmstudios, Schulen und Fabriken und feiert gleichzeitig den Gemeinschaftssinn und die Solidarität, die im Katastrophenfall alle sozialen und ethnischen Schranken aufheben. Abgesehen von den zahlreichen Nachbeben sind die Straßen von Los Angeles in den letzten Tagen und Nächten so sicher wie nie: Die Kriminalitätsrate ist nach Angaben der Polizei um 80 Prozent gesunken.

„L. A. zeigt sich von seiner besten Seite, wenn die Natur sich von der schlimmsten zeigt“ – so lautete die Schlagzeile der Kommentarseite der Los Angeles Times am Mittwoch. Daß es eines Erdbebens bedurfte, um in einer 14-Millionen-Stadt ein Gefühl der Zusammengehörigkeit hervorzurufen, erscheint auf den ersten Blick einzigartig und makaber. Doch allzusehr dürfte sich die „Stadt der Engel“ darin von anderen Metropolen nicht unterscheiden.

Die kalifornische Tradition des think positive wurde am Donnerstag abend allerdings durch zwei Faktoren beeinträchtigt. Erstens zog Regen auf, zweitens können die Geologen nun mit Gewißheit sagen: Dies war nur ein durchschnittliches Erdbeben. The big one, „das große Beben“, das noch für dieses Jahrzehnt in Kalifornien prophezeit und vermutlich über 8,0 auf der Richter-Skala zeigen wird, steht noch aus.