■ Wer darf Brandt wie interpretieren? Zweiter Versuch
: Die Seebacher-Legende samt Folgen

Unmut machte sich unter den Anwesenden breit, als die Witwe verfügte: „So, wie Willy Brandt an seinem Lebensende war, so war er wirklich.“ März 1993. Der Spiegel präsentierte seine gesammelten Gespräche mit Willy Brandt in der Bonner Landesvertretung Baden- Württembergs. Brigitte Seebacher-Brandt dekretierte damit ihr Interpretationsmonopol über Leben und Werk des SPD-Ehrenvorsitzenden. So entstand die nationalkonservative Witwenlegende, die den weinenden Wiedervereinigungs-Willy zum ideellen Gesamt- Brandt stilisieren wollte. Gleichsam als Wilhelm III. sollte er in die Walhalla der Nationalheroen aufgenommen werden, getrennt von den vaterlandslosen Gesellen seiner Partei, denen nur Platz am Katzentisch des wiedervereinigten Deutschland gebührte. Systematisch werden seitdem alle Bezugspunkte gekappt, die auf einen anderen als den nationalkonservativen Willy deuten könnten. Sozis, die sich daran nicht halten mögen, droht der Unkeler Bannstrahl.

Ex cathedra

Da wird Brandt gegen Jean Monnets Europavision in Anspruch genommen, werden seine Rücksichten auf die 68er in Abrede gestellt und wird seine Nähe zu Literaten mit den Vorlieben für Karl Moik und Werder Bremen konterkariert. Und als Süskind von der Süddeutschen sich anheischig machte, die wählerischen Rotwein-Usancen Brandts besser gekannt haben zu wollen als dessen wachsame Gattin, konterte diese, Brandt habe den Roten auch geleert, wenn er nach Kork schmeckte.

Ein Spiel ohne Ende. Schon vom Krankenbett aus wurde Politik mit Passierscheinen und Besuchsfrequenzen getrieben. Und danach die vielen Berufungen auf vorletzte und letzte Verlautbarungen des Dahinsiechenden, der angeblich seiner Partei in Sachen Asylrecht gern noch den Marsch geblasen und Mitterrand wegen seiner zögernden Haltung zur deutschen Einheit die Meinung gegeigt hätte. Zudem wird seine Gegnerschaft zum Maastricht-Vertrag überliefert.

Auch die Wahl von Brandts Lieblingsenkel zum Parteivorsitzenden vermochte die Intransigenz der Hinterbliebenen nicht zu bändigen. Im Gegenteil, kaum hatte sie Scharping empfohlen, schon verwarf sie ihn; war doch in seiner Essener Antrittsrede sowenig von „Nation“ und „Vaterland“ die Rede. Für den neuen Parteichef ist die deutsche Einheit eine soziale Jahrhundertaufgabe und keine vor-diskursive Bauchangelegenheit. Anders ist dieses Thema in einer generativ gehäuteten Sozialdemokratie wohl nicht zu vermitteln. Was Wunder, daß die Witwe sich nunmehr auch an die Zertrümmerung der Troika heranwagt. Im Stile sattsam bekannter Ikonen-„Korrekturen“ von Zentralkomitees wird nach dem „Verräter“ Wehner demnächst auch Helmut Schmidt damit rechnen müssen, in einen höchst absichtsvollen Kontext beim Kanzlersturz 1974 gerückt zu werden – gestützt auf Brandts mimosenhafte Sticheleien in seinen Ullstein-Erinnerungen von 1988. Jene Memoiren sind damals noch von der tiefen Enttäuschung seines schmählichen Abgangs ein Jahr zuvor geprägt. So knöpft sich Brandt seine früheren Weggefährten einzeln vor, um sie mit versteckten Hieben, offenen Attacken oder gezielter Ignoranz abzustrafen. Der frühere Journalist beherrschte das Spiel, mit Relevanzen zu jonglieren, wie kein zweiter. Eine Fundgrube für die Kunst, alte Rechnungen zu begleichen. Und die Seebacherin macht nicht gerade den Eindruck, als wolle sie auch nur eine auslassen. Weitere Säuberungswellen zur Reinhaltung des Brandtschen Erbes sind also zu erwarten – allen voran die baldigen Schauprozesse gegen die Friedrich-Ebert-Stiftung, die ihr Archiv partout nicht rausrücken möchte, wo doch Willy Deutschland und nicht jenen verräterischen Sozis gehören soll, die an seiner vaterländischen Größe in der Stunde der nationalen Wahrheit so jämmerlich gescheitert sind.

Weiterungen

Welch ein Irrtum, wenn die rechtmäßige Witwe in einer Spitze gegen Rut Brandt behauptet, es gebe im Leben immer nur eine Witwe. Wo Witwen sich so rabiat gerieren wie im Fall von Brigitte Seebacher, da stellen sich weitere Witwen meist zwangsläufig ein, auch wenn sie noch so ungebeten erscheinen. So fühlte sich Margarita Mathiopoulos dazu berufen, gegen die nationalkonservative Obsession der rechtmäßigen Witwe vorzugehen. Dabei ist quasi als Antithese eine weitere, nämlich linksliberale Witwenlegende entstanden. Im Begleittext zu einem Fotoband Jupp Darchingers wird Brandt als europäischer Aufklärer und toleranter Zuhörer abgefeiert: „Primär war er ein Intellektueller“, heißt es dort kühn, „was seine Attraktivität als Schriftsteller, Künstler und Denker erklärt.“ Und an anderer Stelle: „Brandt war ein Denker. Immer wieder konnte er zweifeln und zaudern – ein bundesrepublikanischer Hamlet.“ Im Kampf gegen die deutsche Tiefe der Unkeler Sicht unterlaufen der platonischen Witwe einige sprachliche Saloppheiten im Bildkommentar. Da wird etwa die berühmte Erfurter Fensterszene mit einem Vorgang verwechselt, mit dem man landläufig den umständlichen Annäherungsversuch von bayerischen Menschen bezeichnet: „Innerdeutsches Fensterln“. Und die Troika, eingehüllt in Tabakqualm, erhält den Titel einer schlechten amerikanischen TV-Serie: „Rauchende Colts“.

Wo Seebacher Willy Brandt zum Monument fürs Deutsche Eck modellieren möchte, meißelt Mathiopoulos an einem republikanischen Doppelkopf: Willy und Weizsäcker, Richard und der Rote als „Art Versöhnung zwischen Bürgertum und Sozialdemokratie“. Als ob der späte Brandt dies noch nötig gehabt hätte!

Jenseits von nationalkonservativer Monumentalität und linksliberaler Verkitschung kämpft aber noch eine weitere, quasi institutionelle Witwe um ihren Einfluß; die Friedrich-Ebert-Stiftung kämpft bis zum letzten advokatorischen Blutstropfen um den Verbleib des Brandt-Archivs in ihren Kellern. Dabei geht es längst nicht mehr nur um einen gerechten Erbanteil, sondern um alles oder nichts. In seinen Begrüßungsworten ließ Stiftungschef Börner zur Eröffnung der Brandt-Ausstellung im Dezember letzten Jahres keinen Zweifel aufkommen, wer Herr der gezeigten (und zuvor juridisch genehmigten!) Exponate ist.

So droht sich der Kampf „Wem gehört Willy Brandt?“ zum Nebenkriegsschauplatz im Superwahljahr auszuweiten. Dabei setzt die Partei auf die denunziatorische Selbstverbrennung der rechtmäßigen Witwe. Den Gefallen eines Parteiausschlusses wird ihr wohl keiner tun, auch wenn die Empörung an der „Basis“ beträchtlich ist. Das katastrophale Echo auf ihren jüngsten Fernsehauftritt hat ohnehin die Grenzen ihres Charismas aufgezeigt.

Geben wir also unserem gekränkten linken Herzen endlich einen Stoß und sprechen es offen aus: Alles, was wir an Willy Brandt je geliebt haben, ist in Wahrheit weder in der Unkeler Wagenburg noch in der Boutique von Frau Mathiopoulos, sondern einzig bei Rut Brandt aufbewahrt: sein Emigrationsschicksal, der Widerstandsmythos und Opferstatus, der Gang von der Frontstadt Berlin nach Bonn, die Entspannungspolitik, der Friedensnobelpreis...

Jetzt aber Schluß – keine weitere Witwenlegende! Norbert Seitz

Der Autor ist Redakteur von „Die Neue

Gesellschaft/Frankfurter Hefte“