Struwwelpeters calvinistische Insel

■ Im Gespräch: Michael Nagel, Nestor, Mentor und Archivar der heimischen Kinderbuchszene, über die Literaturenklave Bremen und all ihre faustdick erlogenen Unglücksgeschichten

In den meisten Bibliotheken wurden sie früher für sammelunwürdig, weil unterhaltend, gehalten: Die Bücher für Kinder und Jugendliche. In Bremen war das nicht anders. Für seine Bremer Geschichte der Kinder- und Jugendlektüre brauchte der Sozialpädagoge Michael Nagel oft die Geduld des Briefmarkensammlers, wie er sagt. Die taz sprach mit ihm außerdem über die Besonderheiten der Bremer Kinderbuchlandschaft.

Hat denn die Kinder- und Jugendlektüre in Bremen eine eigene Entwicklung durchlaufen?

Was an Bremen wirklich ganz originell ist, das ist diese calvinistische Insel im lutherischen Umland. Und in dieser calvinistischen Insel nochmal eine lutherische Enklave. Entsprechend sehen auch die Katechismen und die Lesebücher für Kinder aus, die ja vor der Aufklärung noch ziemlich religiös geprägt waren. In der Aufklärung selbst haben sich vor allem die Pfarrer und danach auch die Lehrer dafür interessiert, wie die neuartige Pädagogik zu betreiben wäre. Also auch, wie Kinderbücher aussehen sollten. So ab 1900 fallen dann die Bremer Reformpädagogen auf. Die haben regelrecht Muster abgegeben, für eine neue Art, Geschichten für Kinder und Jugendliche zu schreiben.

Pfarrer und Pädagogen – waren sie die einzigen, die sich der Kinderlektüre annahmen?

Gerade im späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert waren es vor allem die Geistlichen, die ja damals auch die Schulaufsicht hatten. Daneben machten sich auch die Bibliothekare so ihre Gedanken, warum, was und wie Kinder lesen sollten.

Was sollten sie denn und was durften sie nicht?

Lesen durften sie nach Ansicht der Philanthropen zum Beispiel nicht die Bibel im Original, weil da gerade im Alten Testament zu viele Stellen drinstehen, die den Kindern nicht bekommen würden. Sex and crime sozusagen. Lesen sollten sie faustdick erlogene Geschichten, die moralisch und sittlich bessern sollten. Die klassische Story ist Fritz, der Näscher, ein fürchterliches Ding, in dem Fritz versehentlich statt Zucker Arsen ernascht. So sind diese Geschichten alle gebaut, diese Unglücksgeschichten.

Das Struwwelpeter-Phänomen – durfte Lesen überhaupt irgendwann mal Spaß machen?

Es wird ja bis heute Belehrendes und Unterhaltendes in der Kinder- und Jugendliteratur unterschieden. Eine Trennung, die eigentlich kaum Sinn macht. Wenn man sich da Bremen mal anschaut, wurde das Unterhalten notgedrungen in Kauf genommen. Die Leute wußten, daß die Kinder sonst nicht lesen würden. Als Konkurrenz gab's in den vier, fünf Bremer Leihbibliotheken das, was wir heute Schund nennen würden. Ritter Balduin in der Gruselhöhle oder Die verwunschene Braut im verzauberten Nonnenkloster. Und die waren für die Kinder und Jugendlichen frei zugänglich. Erst später, so um 1810, hat dann die Mädchenpädagogin Betty Gleim versucht, Belehrendes und Vergnügliches miteinander zu verbinden.

Trotz aller Fürsorge wurde aber auch immer wieder vor Lesesucht und Lesewut gewarnt. Welchen Schaden fürchteten denn die Pädagogen?

Zum einen hieß es, daß die Kinder und Jugendlichen, die zu sehr in die Leihbibliotheksromane versinken, für das wirkliche Leben nicht mehr brauchbar sind. Das würden keine ordentlichen Lehrlinge mehr, die könnten bei der Kaufmannschaft nicht mehr konzentriert arbeiten, was ja in Bremen sehr gefragt war. Und die Mädchen, wenn die sich zu sehr in den Held ihrer Romane verliebt hatten, wurden untauglich für die Ehe und die Hauswirtschaft. Ein Mädchen, das sich mit der Prinzessin von soundso identifizierte, hatte doch keine Lust mehr, ihrem Kind den Po abzuwischen und dem Mann das Essen zu kochen. Das andere ist die Ideologie der Bürgerlichkeit. Das Bürgertum förderte zwar in der Aufklärung selbst die Vielleserei, was aber dreißig Jahre später wieder vehement zurückgenommen wurde. Hinzu kam die Angst vor der Unzufriedenheit der unteren Klassen.

Die Gattung „Aufklärungsbücher“ hat sich ja bis jetzt erhalten. Hatten sie über die Jahrhunderte hinweg die Aufgabe, den Kindern die Welt zu erklären?

Im achtzehnten Jahrhundert war das stark betont. Da gab's Weltgeschichten für Kinder, da gab's Naturgeschichten. Das ging dann zurück, als sich die Kinderbücher kommerzialisierten, und die Vielschreiber Kinderbuchautoren wurden. Karl May etc. Heute ist dieser sachlich-erklärende Aspekt zwar auch noch da, oder wieder da, aber er ist anders. Diese Mischung von Fantasie und Realität wie bei Christine Nöstlinger etwa ist da ganz typisch.

Wie sieht es denn heute mit Kinderbuchverlagen und -Autoren in Bremen aus?

Die Verlagsvielfalt, die ist verschwunden. Da gibt's die Antje Diewerge mit ihren Pferdebüchern. Dann noch Heidmük und Schünemann, aber das war's dann auch schon. Das ist auch ein Armutszeugnis für die Kulturförderung in der Stadt. Autoren gibt's vielleicht zwanzig bis fünfundzwanzig.

Werden Sie im Kinderbuchbereich weiterforschen?

Man steckt ja in der Kinder- und Jugendbuchforschung immer noch in den Grundlagen. Das ist Geschichte der Pädagogik und besonders auch Sozialgeschichte. Was hat man sich für die Kinder ausgedacht und warum und wie kehren die Sachen wieder? Ich arbeite im Moment an einer Geschichte der Jüdischen Kinderlektüre, bin also auf jeden Fall noch eine Zeit lang dran. Fragen: Silvia Plahl