Auf dem Splatter-Boulevard

Der Regisseur und Theatertexter René Pollesch bringt sein Schnellsprechverfahren auf die Bühne  ■ Von Arnd Wesemann

Das Boulevard boomt. Das Boulevard ist nicht totzukriegen. Als einzige Theatersparte hat es mit dem sonst überall registrierten Besucherschwund nichts zu schaffen. Die Zuschauer bleiben so konstant wie der seichte Komödienstoff, der seit Jahrzehnten unverwechselbar die privaten Theater beglückt. Darum haben auch immer wieder seriöse Dramatiker das Metier liebgewordener Happy- End-Gewohnheiten zu erobern versucht, Friedrich Dürrenmatt, Dario Fo oder Eugene O'Neill. In konstanten Zyklen erhielt das bürgerliche Lachtheater Anschub von Schreibern, die zwischen Absurdem und Meisterstück, Tragödie und Posse sich ausprobierten.

Seitdem Al Bundy und Alf, seitdem Flodder und die mal schrecklichen, mal starken Familienbanden im Flimmerzimmer kalauern, hat sich die Chance zum Dramenwechsel an den Komödientheatern zum ersten Mal deutlich erhöht. Die Sitcom geht den trägen Boulevard-Theatern an die Nerven. Statt „Eine schrecklich nette Familie“ gespielt werden. Dafür gibt es die „Familie Daheimbs“, die nicht ganz ohne Grund nach einer Kaffeemarke klingt. Die Waren- und Fernsehwelt nimmt von der Bühne Besitz. Ihr Autor, der kein Dramatiker sein will, heißt René Pollesch, Jahrgang 1962.

Schon Mitte der achtziger Jahre schickte Gerold Theobalt eine Familie namens „Jochen und Inge“ auf die Moerser Bühnen; Lodewijk de Boer probierte es bereits 1972 mit „The Family“. Ebenfalls ein paar Jahre ist es her, daß ein junger New Yorker Regisseur namens John Jesurun vom TV-Studio ins Theater wechselte. Noch ganz im wöchentlichen Produktionsturnus des Fernsehens, gründete John Jesurun in New York seine eigene Theaterfamilie, schrieb für sie jede Woche eine Fortsetzung, und präsentierte pünktlich jeden Dienstagabend eine Dreiviertelstunde lang die neue Folge von „Chang in a void moon“. Jesurun war imstande, den „Golden Girls“ Konkurrenz zu machen. Wöchentlich zog die Nachbarschaft vom Fernsehen fort ins Theater und verfolgte die immer verfahreneren Verwicklungen ihrer heißgeliebten Bühnenfamilie.

René Pollesch brachte dieses grundkomische Prinzip via „Familie Daheimbs“ nach Deutschland. Die Familie führt Vater Siegmund an, arbeitslos, nachdem er eine Sprinkleranlage falsch installierte, die ihm die Schadensersatzklage einer Trockenmilchfabrik einbrachte. Nun verbringt er die Tage damit, den Guinnessrekord der längsten Dominostraße zu brechen, seine Familie mit Scherzartikeln zu langweilen und seinen Seitensprung mit einer Kunsthistorikerin zu pflegen. Gattin Hannelore arbeitet beim Institut für Erdbebenforschung, deren defekte Anlage auf jedes Hüsteln reagiert. Ihre Kinder heißen Patrizia, die dauerhaft das Telefon okkupiert, und Ludger, Statistiker in Statistenpose mit einem Faible für Erhebungen, die nur noch in Nullkommanullnull-Stellen prozentual erfaßt werden können („0,04 Prozent aller Rotgrünblinden halten 3D-Filme für eine überbewertete Erfindung“). Zu ihnen gesellen sich romantische Au-pair-Mädchen, die von Folge zu Folge auf Grund des hohen Verschleißes ausgewechselt, doch stets von derselben Schauspielerin dargestellt werden.

Der Unterschied zum Fernsehen: Die Schauspieler müssen einprägsame Typen, klare Klischeeheimer sein. Die „Drei Damen vom Grill“ oder eine Besetzung à la „Lindenstraße“ haben keine Chance. Inszenierungen anderer Regisseure gingen aus diesem Grund in die Hose. Seither inszeniert René Pollesch seine Texte selbst.

Polleschs Rezept: Nicht ein Lacher alle zehn Minuten, sondern alle zehn Sekunden. Eine zusammenhängende Geschichte gibt es nicht. Alles hängt an den Figuren, an Darstellern, die er zumeist seit Jahren kennt. Susanne Strenger zum Beispiel, die, stets auf einem Ton sprechend, das Repertoire eines ganzen Hauskonzerts aufweist. Mit von der Partie sind Filmschauspieler wie Thomas Heinze, der zuletzt mit Maximilian Schell in Geissendörfers „Justiz“ zu sehen war. Oder Nina Kronjäger aus „Abgeschminkt“. In Rekordgeschwindigkeit bringen sie unterkühlte Sätze rüber, wie in Polleschs jüngstem Werk „Entertaining Mr.S. – Rip-Off“: Wer ist Mr.S.?

Auf der Bühne Schauspieler, die wie so oft, Schauspieler spielen. Das entspricht halb der Wahrheit, halb ist es ein Trick. Die unvermeidliche Oskar-Preisverleihung kollidiert mit der tatsächlichen Golden-Globe-Verleihung in der vorgestrigen Premierennacht, für die auch Geissendörfers Film nominiert wurde. Nina Kronjäger wird genüßlich an ihren „Abgeknallt“-Film erinnert. Lacher. Pollesch übersetzte selbst soeben Joe Ortons „Entertaining Mr. Sloane“. Sein Fundus: ein Verfremdungseffekt. Schauspieler, die Schauspieler spielen, nehmen sich nicht so ernst. Sprechen Sätze über den Serienmörder Mr.S. Nina: „Ihm sollen bei seinem ersten Mord die Haare ausgefallen sein. Bei seinem zweiten ist ihm nichts mehr ausgefallen. Die Bullen hatten solche Angst vor ihm, daß sie ihn telefonisch verhaftet haben.“ Thomas: „Ach, herrje.“ Nina: „Ein paar Leute glauben, sein erster Mord war nur ein gottverdammter Unfall. Er wollte sie nur knebeln, diese kleine Synchronschwimmerin. Aber sie hatte unglücklicherweise noch ihre Klammer auf der Nase. Sie muß diese Sportart in dem Moment verflucht haben.“

Mit Einfühlung und Charakterzeichnung funktionieren solche Sätze nicht. Die Figuren sprechen „auf Anschluß“, trinken dabei „synchron“ grausig bunte Cocktails und fahren Rhönrad. Die Bühne sieht erbärmlich aus, Hotelzimmer, Bars, Wohnküchen, in denen Barbie-Yachten stranden und Sitzgarnituren in Tigerbezug billig schimmern. Ready-mades. Eine Hollywood-Diva frohlockt: „Wir sind ausverkauft, auf Wochen hin! Was sagst du dazu?“ Susanne: „Das war der Kessel von Stalingrad auch.“ Drauf kürte Robin Detje von der Zeit René Pollesch zum „Besten Nachwuchsautor“. Er habe ein neues Genre des Boulevard kreiert: den Splatter-Boulevard.

Keine Horrorkomödie, sondern bös-angelsächsischer Witz, ein übertriebenes Boulevard, das so absurd komische Titel trägt wie „Harakiri einer Bauchrednertagung“ (Pollesch: „Das ist die lustigste Katastrophe, die ich mir vorstellen kann“). Es tritt die klügste Frau der Welt auf, was man ihr unbesehen glaubt: Sie ist Meisterin im 3D-Schach und Kopfmikado. Sie beherrscht Telekinese; jeder Bühnenumbau sei der dazu zwingende Beweis.

Psychologie, Wahrscheinlichkeit und Logik stören den Theaterspaß. „Manchmal ist ein ganzer Satz eben die Pointe, und wenn du in der Mitte von dem Satz eine Pause machst, aus lauter Gewohnheit, dann wissen die Zuschauer schon, während du gerade kaust oder den ersten Teil des Satzes noch herunterschluckst, wie der Satz weitergeht. Wissen die Pointe also früher als du. Diese Art von Schnellsprechen besitzt dagegen eine theatralische Dichte, die ich beim konventionellen Theater vermisse, wo Schauspieler ständig Pausen machen, die sie dann mit Gesten füllen.“ Pollesch läßt sich gleichwohl hin und wieder selbst von seinen Wortkaskaden überholen, wird ihrer nicht immer Herr. Seine während der Proben permanent umgedichteten Texte erfordern ein Höchstmaß an Konzentration auf die Betonung. Schwächere Darsteller kommen nicht mit oder verhaspeln sich. Ein riskantes Theater, dem Pollesch nicht abtrünnig wurde, als er für das Theater Heidelberg Ovids „Metamorphosen“ neu übersetzte, für Andràs Fricsay Kali Son in Bremen ein Drogendrama rettete und bei den Bad Hersfelder Festspielen eine Version des „Sommernachtstraums“ darbot, die von den Darstellern boykottiert wurde, indem sie immerfort abwechselnd auf Erich Frieds und August Schlegels Übersetzung zurückgriffen, „weil ihnen irgendwie immer noch Textzeilen einfielen, die sie früher schon mal gespielt hatten, immer den gleichen Part, wie tragisch. Ein richtiger Splatter-Shakespeare.“

Pollesch gehört zu den Unbeirrten der heutigen Theaterszene, ein Ausdauernder. Um sein Splatter- Boulevard zu realisieren, zog er sich von 1990 bis 1993 in ein kleines Kellertheater in Frankenthal bei Ludwigshafen zurück. „Wenn man eine gewisse Entspanntheit hat, kann man das machen.“ Nun ist er wieder da. Und klopft am Berliner Theater am Kurfürstendamm an, das ihm nicht aufmachen wird. Pollesch würde die alten Chargen rausschmeißen und die jungen Schnellsprecher reinholen. Das Boulevard hätte eine Al-Bundy- Erfrischung durchaus nötig. Bis dahin aber steht ihm das Frankfurter Theater am Turm zur Verfügung: ein Avantgardetheater, das Pollesch zum Komödienstadl der Zukunft umbaut.

„Entertaining Mr.S. – Rip Off“ hat auf der Probebühne des TAT Frankfurt/M. am 22. Januar Premiere. Weitere Vorstellungen: 28.1., 29. & 30.1., 4. & 5.2.