Sexueller Mißbrauch polemisch aufbereitet

Kongreß gegen eine „ideologisierte Mißbrauchspanik“ fand unter Polizeischutz statt  ■ Aus Berlin Jeannette Goddar

Bis zum vergangenen Donnerstag hätte man glauben können, auch die Berliner Frauen seien im Winterschlaf versunken. Wären da nicht der umstrittene Fachhochschuldirektor Reinhart Wolff, Autorin Katharina Rutschky und deren Reden vom „Mißbrauch mit dem Mißbrauch“, die Unterstützung des Berliner Jugendsenators und ein Kongreß unter dem harmlos klingenden Titel „Sexueller Mißbrauch – Evaluation der Praxis und Forschung“, der am Donnerstag in den Räumen der Technischen Fachhochschule beginnen sollte.

Doch kaum rechnet man nicht mit ihnen, erscheinen sie um so zahlreicher. Mit Trillerpfeifen und Hupen, Transparenten, Buttersäure und kräftigem Einsatz ihrer Ellbogen verhinderten etwa einhundert Frauen und einige Männer über Stunden den Beginn des Forums, blockierten den Eingang und besetzten das Podium. Schließlich ließ Alt-68er Wolff, seinerzeit Anführer der Besetzung des Soziologischen Instituts in Berlin, jetzt Direktor der Alice-Salomon-Fachhochschule für Sozialarbeit, die Veranstaltung unter massivem Polizeischutz abhalten. Einlaß nur nach Ausweiskontrolle.

Was die Frauen bis zum Einsatz ihrer Fäuste aufgebracht hatte, ist eine These, die, nicht zuletzt wegen des provokanten Schreibstils Katharina Rutschkys, immer häufiger in den Medien vertreten wird – die These vom „Mißbrauch mit dem Mißbrauch“ oder auch von der „Modediagnose sexueller Mißbrauch“. Eine „uferlose Verdächtigungshysterie“ sowie eine „ideologisierte Mißbrauchspanik“ konstatierte dann auch bereits das Einladungsschreiben zu dem Berliner Kongreß. Mit Losungen wie „Schützt die Kinder – nicht die Täter“ und „Pädophilie ist Ausübung patriarchaler Gewalt“ reagierten die DemonstrantInnen, unter ihnen zahlreiche Frauen aus der Selbsthilfebewegung zu sexuellem Mißbrauch. Die zähen und jahrelangen Bemühungen, das Tabu sexueller Mißbrauch in der Famile zu brechen und anzuprangern, könne nicht mit einem derartig einseitig ausgerichteten Forum erwidert werden. Das Forum an sich sei Ausdruck struktureller Gewalt und folglich sei seine gewaltsame Verhinderung legitim.

WissenschaftlerInnen aus sechs Ländern waren geladen, um an zwei Tagen über das Ausmaß sexueller Kindesmißhandlung und deren Diagnostizierbarkeit aus unterschiedlichsten Perspektiven zu berichten. Nicht eingeladen wurden Fachfrauen aus der feministischen Projektebewegung, die in Projekten wie „Wildwasser“ seit zehn Jahren mit mißbrauchten Mädchen und Frauen arbeiten. Auch anerkannte WissenschaftlerInnen erfuhren nur zufällig von der Veranstaltung und äußerten in Briefen ihren Unmut über die offensichtlich geplante Polemik seitens des Veranstalters.

Der Stoßrichtung des Kongresses machte Autorin Rutschky dann auch mit ihrer Auftaktrede alle Ehre. Unter dem Titel „Sexueller Mißbrauch als Metapher“ verwies sie auf die Funktion des Mißbrauchverdachts als „Schublade für Krisen“. So sei der Verdacht, ein anderer, im Zweifelsfall der Partner, habe das gemeinsame Kind mißbraucht, hervorragend geeignet, Krisen anderer Natur zu kanalisieren. So sei der immer öfter gehörte Vorwurf in Partnerschaften, aber auch von seiten der Erzieher und Jugendämter unter anderem zurückzuführen auf die Ablösung von traditionellen Familienstrukturen – insbesondere bei Scheidungen – sowie auf Folgen des sozialen Wandels und Verletzungen in der eigenen Kindheit.

Daß es sexuellen Mißbrauch gibt, bestreitet Rutschky nicht. Doch die Taten würden in der Regel ebenfalls „umwuchert“ von wilden Phantasien, die in der „fanatisierten Helferszene“ inzwischen zu einer wahren „Mißbrauchsfolklore“ geführt hätten. Gerade in parteilichen Projekten wie „Wildwasser“ werde Mißbrauch geradezu grundsätzlich konstatiert und würden Männer so stigmatisiert. Statt um das Wohl der Kinder sorgt sich Rutschky um die Persönlichkeiten der Väter, Stiefväter, Großväter. Ganz im Gegensatz zu der Erfahrung von Frauen aus der Praxis gibt es in ihren Augen „keinen Täter, der aus der Gesellschaft so ausgeschlossen wird wie ein Kinderschänder“. Und, folglich: „Wer einen Verdacht äußert, begeht Rufmord.“

Nicht nur die DemonstrantInnen, die vor der TFH von der Polizei in Schach gehalten wurden, sondern auch viele der TeilnehmerInnen sahen angesichts der Einseitigkeit des Kongresses rot. „Sie können doch nicht Opfer und Täter auf eine Stufe als Opfer stellen“, erboste sich eine. Andere meinten, die gesamte Debatte diene lediglich als Hintergrund für die weitere Kürzung von Geldern in der Arbeit mit sexuell mißbrauchten Mädchen und Frauen.

Tatsächlich fand das Forum in Zusammenarbeit mit dem Berliner Jugendsenator Thomas Krüger statt. Die Flut von Protestbriefen, die bereits im Vorfeld bei ihm eingegangen waren, kommentierte er in einem von Wolff verlesenen Grußwort mit den Worten, die Reaktion zeige „den dringenden Diskussionsbedarf in diesem Feld" an. Zu guter Letzt sagten allerdings sowohl der Senator wie auch die angekündigte niedersächsische Frauenministerin Waltraud Schoppe (Grüne) die Teilnahme am Abschlußpodium ab. Damit fiel eine abschließende Diskussion aus, und zumindest einige der ausländischen Teilnehmer fuhren mit dem untrüglichen Gefühl nach Hause, selber von den Veranstaltern „mißbraucht“ worden zu sein, um der polemischen Stoßrichtung des Kongresses einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben.