Lorena Bobbitt, die ihrem Ehemann nach jahrelangen Prügeln und Vergewaltigungen den Penis abgeschnitten hatte, wurde letzten Freitag am Ende eines spektakulären Prozesses freigesprochen. Die Geschworenen kamen zu dem Ergebnis, daß die Angeklagte zum Tatzeitpunkt „psychisch beeinträchtigt“ gewesen sei. Aus Washington Andrea Böhm

Freispruch nach Verzweiflungstat

Evelyn Smith und Lorena Bobbitt haben vieles gemeinsam: beide sind Opfer sexueller Gewalt durch ihre Ehemänner, beide standen vor Gericht, weil sie sich mit Gewalt gegen ihre Männer gewehrt haben, beide wurden freigesprochen. Nur machte Smiths Fall nie große Schlagzeilen, während der Prozeß gegen Lorena Bobbitt die Titelseiten der New York Times und der Washington Post füllte, gleichzeitig bis zu 14 Fernsehteams anlockte und dank der Einführung des Court-TV von Millionen von ZuschauerInnen live verfolgt wurde. Der Unterschied: Evelyn Smith hat ihren Mann nach jahrelangen Mißhandlungen und Vergewaltigungen erschossen, Lorena Bobbitt hat ihrem Gatten nach jahrelangen Prügeln und Vergewaltigungen den Penis abgeschnitten.

Evelyn Smith wohnte der Gerichtsverhandlung gegen Lorena Bobbitt bei und war über das Urteil der Geschworenen am Ende höchst erfreut: Die Jury, bestehend aus sieben Frauen und fünf Männern, sprach die Angeklagte letzten Freitag nach siebenstündiger Beratung wegen Unzurechnungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt frei. Was für die 24jährige Immigrantin aus Ecuador schlimmstenfalls eine Gefängnisstrafe von 20 Jahren hätte zur Folge haben können, endete so – vorläufig – mit einer Überweisung in eine psychiatrische Klinik. Dort sollen die ÄrztInnen nun feststellen, ob sich Lorena Bobbitt einer Behandlung unterziehen muß oder „für sich und ihre Umgebung ungefährlich ist“ und nach Hause gehen kann.

Daß sich der „Bobbitt-Prozeß“ als einzige Schlagzeile sogar neben den Nachrichten über das Erdbeben in Los Angeles sowie die Kältewelle an der Ostküste behaupten konnte, lag allein an der Symbolhaftigkeit des Delikts. Weil er sie in der Nacht zuvor, zum wiederholten Mal, vergewaltigt hatte, griff Lorena Bobbitt am 23. Juni letzten Jahres zu einem Küchenmesser und trennte mit einem Schnitt den Penis ihres Mannes ab. Mitsamt Tatwaffe und Objekt setzte sie sich ins Auto, fuhr mehrere Kilometer, bevor sie den nunmehr unbedrohlichen Penis aus dem Fenster warf, erzählte aber der Polizei bei ihrer Rückkehr, wo selbiger zu finden sei. Diese Aussage ermöglichte es, das abgetrennte Körperteil zu sichern, mit Blaulicht ins Krankenhaus zu fahren, wo es von einem Ärzteteam in einer mehrstündigen Operation an den bereits eingelieferten John Wayne Bobbitt wiederangenäht wurde.

Bobbitt versus Bobbitt wurde zum Gegenstand eines bizarren Massenschauspiels, zu dem auch beide Beteiligten beitrugen. Beide haben inzwischen PR-Agenten angeheuert. Sowohl Lorena als auch John Wayne traten in den zahlreichen Vormittagsshows des US- Fernsehens auf, in denen sich ZuschauerInnen wie Betroffene und TäterInnen in einem oft unnachvollziehbaren Exhibitionismus über alle menschlichen Dramen und Tabuthemen auslassen – angefangen von Aids über Brustkrebs, Drogenabhängigkeit, Kinderpornographie, sexuellen Mißbrauch bis zu Ritualmorden. Lorena Bobbitt verkaufte ihre Geschichte an die Zeitschrift Vanity Fair. John Wayne Bobbitt trat in Howard Sterns Porno-Talk-Show auf, der bislang 260.000 Dollar für Bobbitts Arzt- und Anwaltskosten gesammelt hat. Der Aufforderung, für weitere 15.000 Dollar vor der Kamera seine Narben zu zeigen, kam er nicht nach. Dafür konnte man vor dem Gerichtsgebäude T-Shirts mit der Aufschrift „Love hurts“ erstehen – handsigniert von John Wayne Bobbitt. Andere geschäftstüchtige Klein- und HobbyunternehmerInnen boten Hot dogs „mit extra Ketchup“ oder „Slice Soda“ oder männliche Fortpflanzungsorgane aus Schokolade an.

Fast ebenso bizarr verliefen die Ereignisse im Gerichtssaal: Da wurde, noch im Herbst letzten Jahres, zuerst gegen John Wayne Bobbitt verhandelt. Die Anklage lautete auf Vergewaltigung in der Ehe in der Nacht zum 23. Juni 1993. Das Urteil lautete: Freispruch. Die Geschworenen schenkten ihm mehr Glauben als ihr – unter anderem, weil das Strafprozeßrecht im Bundesstaat Virginia die Beweisaufnahme über das Verhalten eines Angeklagten einschränkt: Zugelassen sind nur Beweismittel und Zeugenaussagen, die sich auf Handlungen in den letzten fünf Tagen vor der Straftat beziehen. Die Geschworenen im Prozeß gegen John Wayne Bobbitt bekamen so nie zu hören, was die Geschworenen im Prozeß gegen Lorena Bobbitt erfuhren, in dem die Anklage im übrigen vom selben Staatsanwalt geführt wurde. Dies war nicht nur eine der unzähligen „unglücklichen Ehen“, in der sich beide Seiten das Leben zur Hölle machten. Dies war vor allem eine der unzähligen Ehen, in denen er dank seiner physischen Überlegenheit und des nunmehr in Mitleidenschaft gezogenen Körperorgans an ihr alle Launen, Wutausbrüche und Machtgelüste in Form von körperlicher Gewalt auslassen konnte. Das bezeugten vor Gericht nicht nur Lorena Bobbitt, sondern auch PsychiaterInnen sowie ZeugInnen, die die Angeklagte bei verschiedenen Gelegenheiten mit Blutergüssen und Prellungen erlebt hatten, und Freundinnen, die sie mehrfach über Nacht bei sich aufgenommen hatten, um ihr Schutz zu gewähren.

Entscheidenden Eindruck dürften auch zwei männliche Freunde von John Bobbitt hinterlassen haben, die vor Gericht aussagten, Bobbitt habe ihnen mehrfach erzählt, daß er es genieße, „Frauen zum Sex zu zwingen“. John Wayne Bobbitts Beteuerung, er habe seine Frau in den viereinhalb Jahren Ehe kein einziges Mal geschlagen oder vergewaltigt, erwies sich im zweiten Prozeß als eine dreiste Lüge. Die Tat seiner Frau erschien nun plötzlich nicht mehr so „bizarr“, „sadistisch“ oder „verrückt“, wie sie anfangs in den Medien oft beschrieben worden war. Warum Lorena Bobbitt ihren Mann nicht „einfach“ verlassen hat, ließ sich ebenfalls schnell klären. Eine Scheidung hätte für die Immigrantin aus Ecuador den Verlust ihrer Aufenthaltserlaubnis bedeutet, denn Lorena Bobbitt ist nicht im Besitz der US-Staatsbürgerschaft.

Es lag letztlich an dem vorangegangenen Rummel aus Tal-Show- Sucht, Kommerz und Frivolität, daß Frauenorganisationen erst relativ spät mit dem eigentlichen Thema an das Ohr von ReporterInnen und KommentatorInnen dringen konnten: Gewalt in der Ehe oder in der Beziehung. Nach Angaben der „National Coalition Against Domestic Violence“ sterben jährlich 4.000 Frauen in den USA an den Folgen von Mißhandlungen und Vergewaltigungen durch Ehemänner, Väter, Brüder oder andere Männer aus ihrem näheren Umkreis. Jährlich vier Millionen Frauen tauchen als Opfer von Schlägen oder sexueller Gewalt in den offiziellen Statistiken auf, weil sie entweder die Polizei benachrichtigen oder ärztliche Hilfe brauchen.

Für unzählige Frauen vor dem Fernseher sowie für die hartnäckigen Unterstützerinnen Lorena Bobbitts waren das ebenso banale wie brutale Weisheiten. Vor allem EinwanderInnen aus lateinamerikanischen Ländern hielten tagelang auch bei arktischer Kälte vor dem Gerichtsgebäude aus, um die Angeklagte jeden Morgen mit aufmunternden Zurufen zu begrüßen. Sie heiße zwar nicht gut, was Lorena getan habe, „aber ich kann gut verstehen, was sie dazu gebracht hat“, erklärte eine 44jährige gebürtige Ecuadorianerin. Die Freude über den Freispruch für die 24jährige wurde natürlich nicht von allen geteilt: John Wayne Bobbitt und sein PR-Agent waren zu keinem Kommentar zu bewegen. Und einer der fünf männlichen Geschworenen, der am Freitag abend nach dem Urteilsspruch wieder an seinem Arbeitsplatz erscheinen mußte, sah sich höchst feindseligen Kollegen ausgesetzt. „Manche von den Jungs reden nicht mehr mit mir“, erklärte er der Washington Post. „Die denken, ich habe sie verkauft und verraten.“