■ Schnittplatz
: Kennen'S mi no?

„Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann.“

(Dieter Thomas Heck)

Wir hatten es fast schon vergessen: Vor guten dreißig Jahren, nämlich 1963, versuchte sich das gerade gegründete ZDF auf der Suche nach einem eigenen Unterhaltungsprofil an einer Hochzeits-Show. Aber schon nach zwei Folgen mußte die Sendung aus dem Programm genommen werden. Es fanden sich keine Paare, die vor laufender Kamera heiraten wollten.

Man fragt sich, was mit unserer Gesellschaft seither geschehen ist, wenn heute die „bezaubernde“ Linda de Mol in RTLs Fließband- Show „Traumhochzeit“ anderthalb Stunden lang drei Paare mit Hollywood-Lichtshow, cremefarbenen Rolls-Royce und hinter dem Altar aufsteigenden Tauben unter die Haube bringen kann. Daß diese Inszenierung von Eheglück hohl und pornographisch ist, ist zwar nichts Neues, wurde aber am Sonntag abend besonders deutlich, wenn man hin und wieder zu „Melodien für Millionen“ („mal in Dur und mal in Moll“, wie es im Titelsong heißt) mit Dieter Thomas Heck zappte.

Auch hier wird auf die Tränendrüse gedrückt, wenn das ZDF die langverschollene Busenfreundinnen und „Kriegskameraden“ der eingeladenen Rentner aus der Versenkung holt. Doch an deren Schicksalen kann man Anteil nehmen: Zehn Minuten erzählt eine Omi aus Franken vom Birnenklauen in Nachbars Garten, bevor ihre Kindheitskomplizen („Kennen'S mi no?“) aus der Kulisse treten. Und wenn ein ehemaliger Wehrmachtssoldat aus dem Kriegsgefangenenlager in Ägypten berichtet, ist das fast schon Oral History. Derweil stammeln auf der knallbunten RTL-Bühne jungsche Pärchen sinnlos über ihre deprimierenden Hobbies (Teddybären sammeln!!!) und sind in zwei Jahren eh wieder geschieden. An diesem Fernsehabend hatte man die Wahl zwischen Trockeneis-Nebel („Traumhochzeit“) und 4711 („Melodien“), zwischen Designer- Kulisse und Gelsenkirchener Barock, zwischen postmoderner Sprachlosigkeit und beredter Zeitgeschichte. Klarer Sieger: „Melodien für Millionen“.Tilman Baumgärtel