: Schönheit im Kiez
■ Ein halbes Jahrhundert schien sie vergessen, jetzt endlich wird die Künstlerin Elfriede Lohse-Wächter wiederentdeckt
Nicht alles war am Anfang der Moderne machbar. Auch in den „wilden“ zwanziger Jahren wurde die künstlerische Selbstbehauptung vom Geschlecht abhängig gemacht. Während Kritik und Publikum von Dix und Dada eine gewisse Aufmüpfigkeit erwarteten, blieb Frauen wie Elfriede Lohse- Wächtler jede Emanzipation verwehrt.
Die gebürtige Dresdnerin zählte um 1920 zum Kreis der jungen Avantgarde und verkehrte mit Felixmüller, Griebel, Dix und den Dadaisten. Nach ihrer Heirat folgte sie den wechselnden Engagements ihres Mannes, des Malers und Opernsängers Kurt Lohse. Seit 1927 fest in Hamburg, galt sie auf lokalen Ausstellungen als eine der „stärksten Hamburger Begabungen“. Statt ins Rampenlicht führte ihr Weg aber in die Nervenheilanstalt Arnsdorf, wo sie nach neunjährigem Zwangsaufenthalt 1940 von den Nazis als „lebensunwertes Leben“ ermordet wurde.
Was als Geisteskrankheit eingestuft wurde, war eine Mixtur aus Beziehungsproblemen, materieller Verelendung und unkonventionellem Lebensstil. Bereits in Dresden war die junge Frau, die mit siebzehn ihr konservativ-bürgerliches Elternhaus verlassen hatte, als sensible Exzentrikerin bekannt gewesen. Mit männlicher Kleidung, Pfeife und dem Pseudonym Nikolaus Wächtler stellte sie herkömmliche Rollenbilder und Geschlechtszuweisungen massiv in Frage. Auch in ihrer Ehe rebellierte sie gegen die erdrückende Normalität, die ihr wenig Entfaltungsmöglichkeiten bot. Als Kurt Lohse sich schließlich einer anderen Frau zuwandte, diese ein Kind von ihm erwartete und die Weltwirtschaftskrise eine Existenz als freie Malerin unmöglich zu machen schien, erlitt Elfriede Lohse- Wächtler 1929 einen schweren Nervenzusammenbruch.
Ausgerechnet der „Oberdada“ Johannes Baader, selbst Stammgast diverser Anstalten, riet ihr daraufhin zu einem Aufenthalt in der Psychiatrie. Ihre dort entstandenen Patientenporträts scheinen eine ähnlich überzeugende Wirkung gehabt zu haben wie der Vortrag über das Schlangenritual der Pueblo-Indianer, mit dem der Kunsthistoriker Aby Warburg bereits 1923 seine Entlassung aus der Nervenklinik Kreuzlingen erreicht hatte. Elfriede Lohse-Wächtler kehrte in die Freiheit zurück, fand den ersehnten Rückhalt aber nur im Halbweltmilieu auf St. Pauli. Ihre Darstellungen von Kiezoriginalen und Prostituierten zeichnen sich in so hohem Maße durch detaillierte Sachkenntnis aus, daß die Stuttgarter Kunsthistorikerin Rita Täuber in ihrem ausführlichen Katalogbeitrag vermutet, Elfriede Lohse-Wächtler habe selbst einschlägige Erfahrungen besessen.
Ein herausragendes Beispiel ist das als „Liebespaar“ bekannte Aquarell, auf dem sich die Künstlerin mit entblößtem Oberkörper präsentiert. Von rechts nähert sich ein „Zigeuner“, der ihr auch in weiteren Zeichnungen begegnet und als ihr intimer Begleiter bekannt war. Seine Hand umfaßt ihren Busen, ihre Hand liegt an seinem Hals. Das lange Kopftuch umschlingt die beiden so, daß der Kopf des Mannes vom Körper abgetrennt erscheint. Das Bild ist gleichermaßen als Darstellung einer starken selbstbewußten Frau lesbar, die über ihren Liebhaber bestimmt, wie auch als letzter Versuch, einer gewaltsamen Annäherung Widerstand entgegenzusetzen. Es könnte sich aber ebensogut auch um eine Szene aus der Geschichte Salomes handeln, die auf einer St.-Pauli-Bühne nachgestellt wird.
Der verweigerte Blickkontakt, die Intimität im öffentlichen Raum und im öffentlichen Medium Bild, der Versuch, weibliche Identität im ältesten Gewerbe der Welt herauszuarbeiten, all dies macht die um 1930 entstandenen Bilder Elfriede Lohse-Wächtlers zu eigenständigen künstlerischen Dokumenten einer Standortbestimmung jenseits der wohlanständigen bürgerlichen Welt.
Diese Grenzüberschreitungen wurden mit repressiven Maßnahmen beantwortet. Da die Künstlerin ihre Ängste und Selbstzweifel nicht überspielte, war es ihrem Vater ein leichtes, sie 1931 erneut einweisen zu lassen. Alle Argumente und Bitten Elfriede Lohse-Wächtlers blieben fruchtlos – die Psychiatrie wurde ihr letztes Zuhause.
Mit der Herausgabe des prachtvoll illustrierten Bandes und mit der Organisation einer kleinen Gedenkausstellung auf St. Pauli zieht nun Winfried Reichert die Bilanz seiner dreijährigen Tätigkeit als Verwalter des Nachlasses. Das weitere Schicksal der Bilder ist Gegenstand eines derzeit anhängigen Rechtsstreits mit den Erben. Zu wünschen wäre eine dauerhafte Verankerung der Arbeiten am Ort ihres Entstehens. Dieter Scholz
„Wider die Erwartung. Elfriede Lohse-Wächtler 1899–1940“. Herausgegeben von Winfried Reichert in Zusammenarbeit mit Rita E. Täuber. Eigenverlag des Herausgebers, Setzbornstr. 34, 63860 Rothenbuch. Der Subskriptionspreis beträgt 28 DM, im Buchhandel 36 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen