„Cornelius“ – Kein Terrain für Kopfjäger

Die Gauck-Behörde veröffentlicht die Stasi-Materialien, die Herbert Wehner in den 60er Jahren den Garaus machen sollten. Nicht der leiseste Hinweis auf „Konspiration“ mit der Stasi  ■ von Christian Semler

Gestern hat die Gauck-Behörde der Presse zwei voluminöse Aktenordner übergeben: die Frucht intensiver Sammlertätigkeit der Stasi zum „Fall Wehner“. Nach der Vorveröffentlichung durch den Spiegel, deren Kern die Niederschrift Wehners für das NKWD bildete, war umstürzend Neues von der vollständigen Veröffentlichung nicht zu erwarten. Vor allem diejenigen passionierten Jäger, die nach irgendeiner Form von Konspiration Wehners mit „der anderen Seite“ fahnden, werden den dickleibigen Korpus mit zunehmender Frustration durchstreifen.

Das 886-Seiten-Dossier enthält im ersten Ordner sämtliche wichtigen Aktenstücke, die Reinhard Müller 1993 in seiner Studie „Die Akte Wehner“ publizierte. Der Arme hätte sich also Zeit und Kosten diverser Moskau-Reisen sparen können. Darüber hinaus ist eine NKWD-Einschätzung Wehners nachzulesen, die beweist, wie haarscharf er dem Schicksal vieler seiner Genossen in der Moskauer Emigration entgangen ist. Der KGB, Nachfolgeorganisation des NKWD, überließ der Stasi auch die Vernehmungsprotokolle der schwedischen Polizei nach der Verhaftung Wehners sowie die Ergebnisse einer Untersuchungskommission des schwedischen Parlaments, die sich u.a. mit „kommunistischer Wühlarbeit“ beschäftigte. Die Materialien sind über die beiden Aktenordner verteilt.

Der zweite Aktenordner beginnt mit einem im Milieu der radikalen Linken wohlbekannten Dokument, den 216 Schreibmaschinenseiten umfassenden „Notizen“ vom Sommer 1946, die Wehner seinen neuen sozialdemokratischen Genossen zur Kenntnis brachte. In den späten 60er Jahren wurden diese, nur für den internen SPD-Dienstgebrauch verfaßten Selbstbekenntnisse von der Stasi der westdeutschen, außerparlamentarischen Opposition zugespielt. Die prompt erfolgte Drucklegung hatte allerdings einen Effekt, den die Stasi kaum vorausgesehen haben dürfte: Der „revolutionäre“ Wehner alias Kurt Funk wurde dem „sozialdemokratischen Renegaten“ gegenübergestellt – sehr zum Nachteil des letzteren. Die historischen Umstände, unter denen die Notizen entstanden, sind mittlerweile erforscht und beispielsweise bei dem Wehner-Biographen Hartmut Soell nachlesbar.

Auf Wehners „Niederschrift“ für den NKWD von 1937, die im zweiten Aktenordner enthalten ist, wird hier nicht näher eingegangen. Reinhard Müller wird uns sicher eine Analyse dieses deprimierenden Dokuments vorlegen, die sich nicht im Offensichtlichen erschöpft: Im Aufweis der Schönfärberei – und der Verdrängung.

Was waren nun aber die Motive, die die Stasi, resp. die SED-Führung dazu brachten, von den Moskauer Kollegen die Überlassung von kompromittierendem Material zum „Fall Wehner“ zu erbitten? Im zweiten Aktenordner findet sich dazu ein Schreiben des sowjetischen KGB-Chefs Semitschastny an Mielke vom 19.5. 1967, worin es heißt: „(beide Seiten) kamen zu der völligen Übereinstimmung, daß es auf Grund der besonders gefährlichen Rolle, die ,Cornelius‘ (Herbert Wehner, d.R.) bei der Ausarbeitung der gegen die DDR und gegen die UdSSR gerichteten Politik der westdeutschen Regierung und der SPD spielt, zweckmäßig ist, aktive Maßnahmen gegen ihn zu überlegen und durchzuführen. Ziel dieser Maßnahmen könnte die Entfernung von ,Cornelius‘ als einer der gefährlichsten Funktionäre des rechten Flügels der SPD von der politischen Bühne sein.“ Anschließend charakterisiert Semitschastny das beigefügte NKWD- bzw. Komintern-Dossier, nicht ohne maliziös anzumerken, daß sich alle Dokumente als Fotokopien bereits seit 1964 im Besitz des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED befänden. Er schließt mit der Überzeugung, das Material reiche hin, um eine Kampagne zur Kompromittierung Wehners zu starten.

Zwei Monate später wird in einem Informationsbericht der Stasi bedauernd festgestellt: Die bisherigen Untersuchungen hätten „keinen direkten Beweis“ dafür erbracht, daß auf Grund der Aussagen Wehners bei der schwedischen Polizei Antifaschisten der Gestapo zum Opfer gefallen seien. Aber noch ein halbes Jahr später macht sich die Stasi Hoffnung, im Rahmen einer „Teilkonzeption der operativen Arbeit“ Wehner in Zusammenhang mit der Gestapo zu bringen und damit ein Gerichtsverfahren seitens „der bürgerlichen Justiz“ gegen ihn lostreten zu können. Dann aber wird der ganze „Vorgang“ gestoppt. Die Akte teilt das Schicksal ihrer Zwillingsschwester im Institut für Marxismus-Leninismus.

Hätte man sich vor dem Wahljahr 1994 ernsthaft für die Entwicklung der sowjetischen Positionen zum „Fall Wehner“ interessiert, so hätten zwei Einschätzungen des KGB bzw. der Abteilung für Internationale Beziehungen beim ZK der KPdSU von 1963 bzw. 1967, die bei Reinhard Müller abgedruckt sind, nützliche Hinweise liefern können. Die sowjetischen Experten konstruierten damals zunächst einen Gegensatz zwischen dem „Atlantiker“ Brandt, der sich der frühen amerikanischen Entspannungsoffensive anschließen werde und dem Sturkopf Wehner, der zu den USA Distanz halte, weil sie die deutschen Interessen opfern werden, und der an der Konfrontationslinie gegenüber der DDR festhalte. Im Dokument von 1967 wird diese Position modifiziert. Jetzt erscheint Wehner, wiewohl er sich nach wie vor am Fernziel der Wiedervereinigung orientiert, als Anhänger von Verhandlungen mit der DDR.

Ob es zwischem dem KGB und den „Außenpolitikern“ in der KPdSU Meinungsverschiedenheiten gab oder nicht; ob sich solche Differenzen getreulich in der SED-Führung widerspiegelten – wir wissen es nicht. Fest steht auf alle Fälle, daß die Operation „Cornelius“ begraben wurde, sobald die Bonner Große Koalition Fuß faßte. Vergeblich wird man deshalb nach den Spuren weiterer Stasi- Sammlertätigkeit zum „Fall Wehner“ suchen.