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Die Schwelle ist längst überschritten

Die Zunahme von Gewalttaten gegen Behinderte ist kein Phantasieprodukt von Linken, die sich ein Opferdrama wünschen, sondern Ausdruck eines insgesamt rauheren Klimas. Eine Entgegnung auf Franz Christoph  ■ Von Oliver Tolmein

Franz Christoph, Publizist und Mitbegründer der „Krüppelinitiative“, hatte in seinem Essay (s. taz vom 19.1. 1994) diagnostiziert, daß der Widerstand gegen die von dem Philosophen Peter Singer initiierte „Euthanasie“-Debatte gescheitert sei: Singer stünde heute als bemitleidenswertes Opfer einer illiberalen Kampagne da. Da der Boykott nicht funktioniert habe, müsse man nun den Dialog versuchen. Gegen diese Einschätzung verwahrt sich Oliver Tolmein in seinem Beitrag. Tolmein war von Christoph vorgeworfen worden, er habe Fälle von vermeintlich rechtsradikaler Gewalt gegen Behinderte schlecht recherchiert und aus politischen Gründen verzerrt dargestellt.

Das Timing ist fast perfekt: Wenige Tage, nachdem offenkundig geworden ist, daß sich die junge Hallenser Rollstuhlfahrerin ihre Hakenkreuz-Schnittverletzungen selbst beigebracht hat, fordert Franz Christoph, ein Autor mit profilierter krüppelbewegter Vergangenheit und beachtlichem Talent, sich ins Gespräch zu bringen: „Weshalb kann nicht deutlich erklärt werden, daß die zu Recht befürchtete Gewaltlawine [gegen Behinderte, Anm. O.T.] nicht stattgefunden hat?“ Ist die seit etwa anderthalb Jahren in vielfältiger Form beobachtete Zunahme von Gewalt gegen Behinderte ein reines Phantasieprodukt? Glaubt man Christoph, findet derzeit von seiten Behinderter „eine Flucht in die Opferrolle“ statt, daß „die Mär von rechtsradikalen Übergriffen für uns wesentlich erträglicher zu sein (scheint) als die Schmerzen, die uns Linke und Liberale bei ihrem Einsatz für die Euthanasie- Debatte zugefügt haben“. Verantwortlich für diese „Mär“ sind, Christoph zufolge, außerdem Nichtbehinderte wie ich, die „aus einer kämpferischen Verliebtheit ins Drama heraus Behinderte in ihrem Lebensalltag verunsichern und damit selbst subtile Gewalt ausüben“. Als Beleg dafür wartet er mit zwei Enthüllungen auf, die eine mehr an der Ideologie als an den Fakten orientierte Berichterstattung nachweisen sollen – es aber nicht tun.1

Franz Christophs furiose Attacke soll als Tabu-Bruch wirken. Tatsächlich polemisiert er aber auf der konservativen Linie von Bundesregierung und Reichsbund, die beide die Zunahme von Gewalt gegen Behinderte als „unbewiesen“ abgetan haben. Das heißt jedoch nicht, daß alle Fragen geklärt oder weitere Auseinandersetzungen unnötig wären. Denn tatsächlich ist bisher noch kaum schlüssig erfaßt, was außer der offensichtlichen und – so leidlich gut es geht – vom niedersächsischen Behindertenbeauftragten, dem Marburger Fib e.V. und der Zeitschrift für Behindertenpolitik randschau in Texten und Broschüren dokumentierten quantitativen Zunahme von offener Gewalt gegen Behinderte deren besondere, neue Qualität ist.

Ebensowenig ist ausreichend reflektiert, was das „Rechte“ an dieser Gewalt ausmacht. Tatsächlich ist „Gewalt gegen Behinderte“ ja kein neues Phänomen; tatsächlich sind auch die meisten der bislang bekannt gewordenen Täter keine Rechten, wie sie in den Dateien des Verfassungsschutzes geführt werden – politisch geschult, organisiert, mit geschlossenem Weltbild. Nur: Das zeichnet auch die Rechten, die Anschläge auf Flüchtlingswohnheime oder Wohnhäuser von ImmigrantInnen verüben, in der Regel nicht aus. Bemerkenswert an den Aggressionen ist aber, wie selbstsicher, trotz dieser fehlenden „Bewußtheit“, die Täter regelmäßig auf das kollektive Gedächtnis zurückgreifen: Sie mögen dumm, alkoholisiert, jugendlich oder alles zusammen sein – Hakenkreuze, mit Vergasung drohende Parolen und Sprüche, Verweise auf die Euthanasie- Morde der Nazis ziehen sich wie ein brauner Faden durch ihre Pöbeleien, Rempeleien, die gewalttätigen Angriffe und Schlägereien der Gegenwart. Der Nationalsozialismus ist der historische Bezugspunkt von Verbrechen gegen Minderheiten in Deutschland – auch wenn die Qualität des aktuell um sich greifenden Ressentiments von der nazistischen, staatlich organisierten und von der Gesellschaft getragenen Vernichtungspolitik weit entfernt ist.

Der Blick zurück zeigt aber auch Unterschiede zwischen Antisemitismus und Eugenik: Wurden Juden und Jüdinnen außer von staatlicher Gewalt stets auch von Pogromen aus der Mitte der Gesellschaft bedroht, waren Behinderte, oftmals in Anstalten ghettoisiert, von vornherein total aus der Gesellschaft ausgegrenzt – und dadurch paradoxerweise vor dieser körperlichen Gewalt geschützt, sie waren mehr „Unberührbare“ als Feinde, die sich gegen das deutsche Volk verschworen hatten. Tödlich wurde für sie eine von naturwissenschaftlicher Intelligenz und staatlicher Sozialpolitik forcierte Vernichtungsstrategie, deren ideologische Basis die Zuschreibung eines Nicht-Menschen-Status für Behinderte war. Ich denke, daß das auch einer der Gründe ist, warum die „Euthanasie“-Morde vor dem Holocaust begonnen wurden und damit die Basis für die weitere „Ausmerz“-Politik legten. Die ersten Schritte dorthin waren die Zwangssterilisationen, die über eine systematische Unterversorgung in den Anstalten und „Unnütze Esser“-Propaganda in die „Euthanasie“-Morde mündeten. Die Reaktionen der Gesellschaft auf diese Vernichtungspolitik waren trotz großer Unterstützung offensichtlich widersprüchlicher als die auf den Holocaust: Viele Eltern haben ihre behinderten Kinder der Vernichtung preisgegeben – es gab aber auch offenen Protest. Das hängt nicht nur, aber auch damit zusammen, daß die Bejahung einer Mordpolitik gegenüber Behinderten, wie sie von den Nationalsozialisten angegangen wurde, in letzter Konsequenz auch eine zumindest potentielle Bejahung der eigenen Tötung bedeutete. Der Krieg gegen Behinderte, so konsequent geplant und durchgeführt wie von den nationalsozialistischen Machthabern und den wissenschaftlichen Sozialplanern, kennt kaum Grenzen. Er ist auch, da eine Beeinträchtigung körperlicher und geistiger Leistungs- und Anpassungsfähigkeit durch Unfall, Krankheit oder Alter allen droht, ein Ausdruck von Autoaggression. In der aktuellen Debatte hat sich, das scheint mir zumindest eine diskutable These, das nicht grundsätzlich verändert – die Akzente sind aber deutlich verschoben. Der Anpassungsdruck auf die Individuen an die gesellschaftlichen Leistungsnormen hat in dem Maße zugenommen wie ihre Vereinzelung – er ist heute weitaus stärker als in den dreißiger Jahren. Nur die „intelligenten Selbstoptimierer“ (Hagen Kühn) haben die Chance auf das, was allgemein als Vorstellung vom „lebenswerten“ Leben verinnerlicht ist. Die Ausbreitung von Pränataldiagnostik und humangenetischer Beratung, das Zusammenwirken von einem zunehmend biologistisch orientierten Menschenbild mit der „Euthanasie“-Debatte, die suggeriert, es sei sinnvoll und möglich, das Leben auf einen „lebenswerten Kern“ zu reduzieren, haben die nationalsozialistische eugenische Vision in greifbarere Nähe gerückt, als sie es in den dreißiger und vierziger Jahren war. Heute bedarf es vor allem keines staatsterroristischen Zugriffs auf Behinderte. Um auf diesem sauberen Weg weiter fortschreiten zu können, ist die Gewalt auf der Straße eher kontraproduktiv – sie macht sichtbar, was der „Euthanasie“-Diskurs sich seit Jahren zu verdecken bemüht: die rassistischen Wurzeln der „Lebenswert“-Ideologie.

Es ist die völkische Variante der ansonsten – wie weiland die Diskussion um „Rassenhygiene“ und „Eugenik“ – durchaus international geführten „Euthanasie“-Debatte: Daß sie sich ähnlich pogromartig ausbreiten wird wie die Gewalt gegen als Ausländer Erkennbare ist derzeit wenig wahrscheinlich, denn die rechte Gewalt ist, anders als oft behauptet, kein Protestsignal, sondern in hohem Maße opportunistisch – und die Zustimmung, die rechte Gewalttäter nicht nur im Verlauf ihrer Aktionen erfahren haben, wenn sie gegen Ausländer zu Felde gezogen sind, ist ihnen nach Überfällen auf Behinderte bislang versagt geblieben. Der Zusammenhang von allgemeiner Stimmung und Gewalt begründet aber auch das Fortdauern der Gefahr.

Ein einheitliches Bild vom „unwerten Leben“ hat nämlich bei Deutschlands Rechten (und nicht nur dort), anders als Christoph nahelegt, nie aufgehört zu existieren. Die Schwelle zur offenen, tätlichen Umsetzung der brutalen Ideologie ist heute bereits überschritten. Werden Behinderte im öffentlichen Diskurs in Zukunft noch weitaus stärker als bisher als „ökonomische Belastung“ denunziert, werden die „Das Boot ist voll“-Positionen, wie sie heute schon längst nicht nur von Singer vertreten werden, „normaler“ Bestandteil der politischen Debatte, kann sich die Situation schlagartig verändern. Nicht weil die Schläger auf der Straße die sozialwissenschaftliche Literatur lesen würden, wie Christoph schlau einwendet, sondern weil sich die Verrohung des sozialen Klimas auf vielerlei Wegen in den Alltag vermittelt.

Deswegen ist Christophs Forderung, Singer vom „Podest des Zensuropfers herunterzuholen“, was eine freundliche Umschreibung dafür ist, daß wir uns künftig die Themen und Regeln der Debatte aufzwingen lassen sollen, fatal. Die Alternative zu dieser Option ist im übrigen nicht, wie immer wieder gerne demagogisch behauptet, aber kaum belegt wird, die „Verweigerungsstrategie“. Wer sich die Publikationen aus der Behindertenbewegung wie die randschau durchliest, wer die Flugblätter zum Thema und die Bücher aus Kreisen der behinderten und nichtbehinderten „Euthanasie“-GegnerInnen zur Kenntnis nimmt, kann schwerlich behaupten, wir setzten uns nicht mit „Euthanasie“-BefürworterInnen auseinander. Es macht aber einen erheblichen Unterschied, ob wir uns mit den Protagonisten einer das Mensch-Sein hierarchisierenden Tötungsethik (deren Nähe zu einer Ideologie, die im Nationalsozialismus Tat geworden ist, auch Christoph einmal bewußt war) in die gepflegte, unterhaltsame Atmosphäre einer Talk-Show begeben, oder ob wir auf einer Veranstaltung zum Beispiel kontrovers mit einem Klinikarzt diskutieren, der im Einzelfall den Abbruch von intensivmedizinischen Maßnahmen bei behinderten Neugeborenen vertritt, der sich aber vehement gegen eine „Euthanasie“-Praxis wie der in den Niederlanden ausspricht.

Die „Euthanasie“-Debatte und die Vorbereitung einer ihr entsprechenden Praxis aufzuhalten, ist uns in der Tat nicht gelungen. Immerhin aber ist erreicht worden, daß der Diskurs über die Tötung „lebensunwerten Lebens“ hierzulande (noch) nicht „normal“, (noch) keine akademische und politische Routine geworden ist. Christophs Vorschlag läuft darauf hinaus, das zu ändern. Er hat in seinem Text für diese Wende selbst die passende Formel parat: „Anpassung durch Angst vor Liebesentzug“. Aber Anpassung hat noch nie einen Weg aus der Gefahr zeigen können.

1 Anmerkung: Christoph erwähnt zum einen den Überfall auf eine Klasse im „Berufsbildungswerk“ des Reichsbundes in Stendal am 19. September 1992. Starke Indizien für die Täterschaft von Rechten war im September 1992 die Forderung der Täter an die Behinderten, den Hitler-Gruß auszuführen, und ihre besonderen, gegen Antifaschisten gerichteten Drohungen. Im Laufe der Ermittlungen haben sich neue Aspekte ergeben – nichts Ungewöhnliches in einem Strafverfahren. Im ersten Kapitel meines Buches „Wann ist der Mensch ein Mensch?“, drei Monate später geschrieben, werden die Täter deswegen auch nicht mehr als „Rechtsradikale“ bezeichnet. Heute spricht einiges dafür, daß die Täter den rechten Anschein zur Irreführung verwendet haben; daß es sich ausschließlich um ein „Eifersuchtsdrama“ handelte, das „auch anderswo und auch ohne betroffene Behinderte hätte passieren können“ (Christoph alias Reichsbund), scheint mir aber nach wie vor zumindest fragwürdig. Die Informationen über die Tat legen nahe, daß sich die (zum Teil wegen Körperverletzung vorbestraften) Täter an ihrer körperlichen Überlegenheit über die Behinderten ergötzt haben; das Urteil selbst läßt sich zu einem möglichen „Eifersuchtsdelikt“ nicht aus, das Strafmaß ist mit elf Jahren Haft für den Anführer, drei Jahren Jugendstrafe für einen der Täter und drei Wochen Arrest für einen anderen erstaunlich hoch ausgefallen.

Das zweite Beispiel ist aufschlußreicher. Es geht um den Mord an dem stark sehbehinderten Lagerarbeiter Bruno Kappi, der zur Zeit vor dem Landgericht in Siegen verhandelt wird. Die beiden mutmaßlichen Täter gehören der Anklageschrift zufolge seit Jahren zur rechten Skinszene. Ich hatte kurze Zeit nach der Tat re

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cherchiert, daß einer der beiden Wochen vor seinem Angriff auf einen Behinderten zusammen mit anderen einen Flüchtling aus Sri Lanka zusammengeschlagen und auf eine vielbefahrene Straße gelegt hat. Christoph hält dagegen: „Statt wenigstens einmal bei der Wahrheit zu bleiben, versucht er (also: Oliver Tolmein) den Mord in eine Kontinuität staatlicher Komplotte einzuordnen und suggeriert einen Zusammenhang zwischen Euthanasiedebatte und der Verschärfung des Asylrechts... Das eigentliche Opfer, ein vom Akademischen Austauschdienst geförderter Gastdozent der Uni Siegen, erschien unserem Entlarver ungeeignet.“ Statt zu reflektieren, daß in Siegen offensichtlich keine private „Eifersuchtsgeschichte, die auch anderswo und ohne Behinderte hätte passieren können“, stattgefunden hat, daß hier offensichtlich Skins mit beträchtlicher Gewaltbereitschaft zugange waren, sucht Christoph diesmal den Fehler im Detail: Kein (tamilischer) Flüchtling, sondern ein (vom Akademischen Austauschdienst geförderter) Gastdozent wäre Opfer des einen der mutmaßlichen Kappi-Mörders gewesen. Da ich, anders als Chistoph behauptet, wie sich aber aus dem Zusammenhang meines Textes zwingend ergibt, keine Kontinuität „staatlicher Komplotte“ belegen wollte, sondern einen Zusammenhang im rassistischen Denken und Handeln aufzeigen – Behinderte und Farbige geraten in ähnlicher Weise als „unwertes“ bzw. „minderwertes Leben“ ins Visier der Schläger auf der Straße –, hätte das keinen großen Unterschied gemacht. Ob der Farbige, also vom Äußeren her als „Ausländer“ zu erkennende Mensch (der tatsächliche aufenthaltsrechtliche Status spielt dabei keine Rolle) chinesischer Gastdozent, kurdischer Immigrant oder srilankischer Flüchtling ist, spielt für den fremdenfeindlichen Schläger nämlich kaum eine Rolle. Tatsächlich hat Christoph aber, „statt wenigstens einmal bei der Wahrheit zu bleiben“, bei seiner Enthüllung meiner angeblich ideologiebelasteten Recherche sich einfach nur selber schlecht informiert und zwei Verfahren, die nichts miteinander zu tun haben, durcheinandergebracht: An dem Überfall auf den aus Sri Lanka stammenden Tamilen, der in Hennef stattgefunden hatte und der vor dem Landgericht in Siegen verhandelt worden ist, war tatsächlich, wie ich geschrieben habe, einer der seit Jahren von der Polizei zur rechten Skinszene gezählten mutmaßlichen Kappi- Mörder beteiligt; der Überfall auf den chinesischen Gastdozenten, der in Siegen verübt worden ist, hat mit dem Kappi-Mord dagegen nichts zu tun (Auskunft des ermittelnden Staatsanwaltes Schicha vom Dezember 1992, bestätigt durch den Pressesprecher des Landgerichts Siegen, Horsthemke, im Januar 1994).

2 Oliver Tolmein hat zwei Bücher zur „Euthanasie“-Debatte veröffentlicht: „Wann ist der Mensch ein Mensch?“, 1993, und (mit Theresa Degener) „Geschätztes Leben“, 1990.

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