■ Das Studium unter dem Diktat der Wirtschaftlichkeit
: Die Intrige gegen die Zeit

Das Bild hängt schief: an den Universitäten der erweiterten deutschen Republik protestieren und streiken die StudentInnen, ohne aufs altgewohnte und allen liebgewordene Feindbild der verstaubten Talare zu rekurrieren. In den Protesten gegen das viel diskutierte „Eckwertepapier“ zur Bildungspolitik sehen beide Seiten des inneruniversitären Machtgefälles mit Erstaunen und zuweilen auch Entsetzen, daß die jeweils andere Seite die Gefälligkeit, sich zum Gegner zu stilisieren, nicht mehr recht erweisen will.

Die vorgeschlagenen Reformen zur Verkürzung der Studienzeit, so versichern diverse KultusministerInnen, HochschulvertreterInnen und Studierende unisono, lassen in der gegenwärtigen Situation des Studienbetriebs sich nicht sinnvoll verwirklichen. Da die Verlängerung aus einer hundertprozentigen Überbelegung der Universitäten, deren kapazitärer Kollaps längst schon eingetreten ist, resultiere, wünschen sowohl Ausbildende wie Lernende von Reformen, sie möchten durch Kapazitätsausbau die Institution Hochschule einem Lifting unterziehen. Sie einigen sich darauf, es müsse die Debatte auf den wunden Punkt „Hochschuldidaktik“ ihren Finger legen.

Die Kritiker haben recht: mit den Eckwerten ist die Universität überfordert. Die Kanten des politischen Entwurfs allerdings sind nicht geschliffen, wenn die Schreckgespenster „Strafgebühren“ oder „Zwangsexmatrikulation“ ausgetrieben wurden. Die Entschlackungskur vermag die Zumutung im Sinne der Kritik nicht zu nehmen, da die kosmetische Korrektur hinsichtlich hochschuldidaktischer Fragen den Punkt nicht diagnostiziert, in dem die wahre Forderung der Politik einer Studienstrukturreform besteht.

Was dem Reformhaus Universität in den Debatten der Politik und der internen Selbstreinigung auferlegt wird, läßt wie folgt sich beschreiben: ihr ist die Zeit streitig gemacht, die Zeit genommen. Zeigt das Studium von seinem Grundgesetz her sich als Erstreckung von Zeit, so wertet eine nun politisch in Angriff genommene Strategie dies als Gewährung von Asyl. Die Spitze des entworfenen Gipfels richtet sich gegen die Notunterkunft universitär genutzter Zeit, deren Inanspruchnahme als Mißbrauch gebrandmarkt wird. Die Durchführungsverordnung initiiert eine Säuberung der bundesdeutschen Universitäten von der Zeit.

Der französische Philosoph Henri Bergson hat es Ende des letzten Jahrhunderts den Menschen ins Stammbuch geschrieben: Die Vorgänge des Bewußtseins bilden über eine Prozessualität, über eine Dauer von Zeit sich aus. Die zeitliche Bestimmtheit, der gemäß eine stets unterschiedlich erlebte Erstreckung die Wahrnehmungen prägt, bedeutet zugleich, daß die erlebten Abläufe sich nicht nach der Uhr richten: der sture Gleichlauf der Zeiger wird vom Erleben nicht unterschrieben.

Das Privileg der Zeit in der Ökonomie des menschlichen Bewußtseins allerdings ist folgenreich. Nach ihm vermag der Homo sapiens sich nicht nach Maßgabe der wirtschaftlichen Ökonomie zu verhalten. Die wirtschaftlichen Strategien richten allein sich nach einem erzielten Wert, der ohne Zeitverlust verbucht werden soll. Muß dem Menschen, wie es der Form seines Bewußtseins entspricht, Zeit gelassen werden, so löst er das wirtschaftliche Plansoll, effizient und allzeit verfügbar zu sein, nicht ein.

Diese Konfrontation kulminiert in einer Bewegung, die von Denkern der Gegenwart als Beschleunigung der Wandlungsgeschwindigkeit angegeben wurde. Demgemäß fegt ein Wirbelsturm die althergebrachte Vertrautheit weg: alles, so klagt der geplagte gegenwärtige Mensch, wird neu, und das immer schneller. So vermag er zuletzt auch ans Neue nicht mehr sich zu gewöhnen. Das Signum der Beschleunigung stellt eine Intrige gegen die Zeit, eine Intrige gegen die Bauart des Menschen dar. Mit der Zeit, die vormals der Mensch im vertrauten sich lassen wollte, wird kurzer Prozeß gemacht, wird das Spiel zunehmender Kürze gespielt. Nach den Regeln der Wirtschaft darf die Installation von Worten im gesellschaftlichen Leben alles haben, bloß eins nicht mehr: Zeit.

Diese Bewegung der Gegenwart und des zwanzigsten Jahrhunderts überhaupt hat nun endgültig einen Ort erreicht, der lange Zeit für schlechthin unwirtschaftlich galt. Die Universität als eine nicht den Spielregeln der Ökonomie gehorchende Ausbildungsstätte stellt den aktuellen Austragungsort des skizzierten Wettkampfs der Ökonomie mit der Zeit dar. Die Wirtschaft hat – unterstützt von der Politik – ihre Spielzüge in dem „Eckwertepapier“ präsentiert. Dieses verkauft sich im Namen einer Anpassung an den Prozeß europäischer Einigung, ist – laut Selbstangabe – mit der heißen Nadel der Zukunftssicherung gestrickt. Gegen solche Rhetorik eines Fortschritts mit Richtung auf die „Zukunft“ für den „Standort Deutschland“ und „Europa“ allerdings gibt die Sprache dieses Papiers zu erkennen, daß es darum gehe, an der Universität jene schillernde Zeitlosigkeit herzustellen, in der nichts mehr eine störende Dauer hat. Ein unzeitgemäßes Aufmerken auf die sprachlichen Werte in den Ecken dieses Papiers fördert die abgeschminkte politische Programmatik zutage.

Insbesondere in den Verben, die von der deutschen Regelschuldidaktik den hier sprechenden Namen „Zeitworte“ erhielten, erzählt das Projekt von seinen Zielvorstellungen – auch in den unscheinbarsten Sätzen wie: „Hochschulen, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen und Wirtschaft müssen noch enger zusammenarbeiten.“ In diesem Sinne der ökonomischen Auswertung soll der Studienraum „enger“, „gesichert“, „gesteigert“, „entfrachtet“, es soll den „absehbaren Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft besser entsprochen“ werden.

Die Verengung schlägt sich im Gebrauch, in der Gebrauchbarkeit von Worten nieder: dem „Wert“, im Zusammenhang abendländischer Bildung Inbegriff des gerade nicht Bezahlbaren, wird allein ökonomisch noch „entsprochen“. Die vielbeschworene „Evaluierung“, die Selbst- und Fremdbewertung der Hochschulen, hat einzig für den pekuniären Wertbegriff noch Verwendung, realisiert derart eine Verengung des Wortes „Wert“. Damit ist die Stätte der anderen Werte par excellence, die Universität, der Vielfältigkeit ihres Sinns, ihrer Möglichkeiten und ihrer – gerade sprachlichen – Bedeutung beraubt.

Die Ausrichtung oder, wie es im Papier heißt, die „Orientierung“, die sich sprachlich niederschlägt, hat zur Folge, daß es keinerlei Umwege oder Auswüchse mehr gibt, da die möglichen Wege der Worte auf einen eingeschränkt sind. Diese sprachliche „Orientierung“, die das Ausufern abschneidet, findet sich bezüglich der Formation möglicher Studien wieder: „Evaluierung und ggf. Reduzierung der zahlreichen Angebote an Aufbau-, Zusatz- und Ergänzungsstudiengängen.“ Im Geist der Zielvorgabe, die verwirrenden Umwege auszumerzen, wird vor „mißbräuchlichem Studienfachwechsel“ gewarnt.

Hinter solcher Verengung steht eine Abschaffung gerade derjenigen Zeit, wie sie von dem Vorgang, sich zu bilden, impliziert wird und wie sie das Bewußtsein des Menschen überhaupt konstituiert. Es formiert sich eine Ethik inquisitorischer Abwicklung, die, was da in Wert sich nicht ummünzen will, tilgt. Die humanistische Ethik der Gabe von Zeit soll und wird mit den Eckwerten des Papiers zu einer Ethik der Schuld transformiert: Studierende schulden Zeit und müssen ihre Schuld schnellstmöglich durch Fungibilität wettmachen, um ihre Kreditwürdigkeit (Bafög) zu erhalten.

Hinter der Rhetorik, die „Zukunft“ zu sichern, wirkt somit ein Projekt der Zentralisierung. Die angestrebte „Entfrachtung“ der Bildungsmaschinerie führt zu einem Punkt zurück, an dem der „Wert“ im Singular der Konzentration und nicht im Plural der Zerstreuung besteht. Im Namen der „Zukunft“ wird einzig und allein ein Rückweg eingeschlagen.

Das Projekt „Evaluierung“ weiterspricht, willigt in diese Betrachtungsweise ein, redet – und sei es mit kritischer Intention – dem Wert das Wort; ob sie/er will oder nicht. So verfänglich ist das Projekt des Eckwertepapiers. Alle Mitsprache an den vorgeschlagenen Reformen spinnt die Intrige gegen die Zeit im Studium, gegen die in der (Aus)bildung gegebenen Umwege fort. Dies gilt auch für die Bewertung der Lehre von seiten der Studierenden: auch diese ist einer „Zukunft“ nur insofern gewidmet, als sie zur „Orientierung“ über die Mittel und den einen Wert der Ökonomie beiträgt. Angeprangerte Deform und angeforderte Reform sind sich so nahe, wie der sprachliche Gleichklang suggerieren mag.

Die Sprache des Eckwertepapiers lädt – so folgt aus der vorgeführten Lektüre – nicht zu einer Verkürzung der Zeit des Studiums ein; sie fordert zur Austreibung der Zeit auf. Dies hat totalitäre Konsequenzen: jegliche Kritik, die nicht in bloße Affirmation umzuschlagen wünscht, ist gezwungen, an den Ecken und Kanten vorbei die Wertvorstellung des Papiers anzuvisieren. Es geht im Kern darum, ob die – gelassene – Zeit einen Mißbrauch darstellt, ob sie deshalb, wie der Entwurf vorschlägt, genommen werden soll. Dies allein muß Gegenstand der Debatte sein.

Georg W. Bertram/

Arnim Sollbach

Mitarbeiter am „Zentrum für Philosophie“ an der Universität Gießen