■ Giftiges Strandgut mies fürs Geschäft
: Nicht die 25 bis gestern mittag am Strand ihrer Nordseeinsel gefundenen Pestizidbeutel machen die EinwohnerInnen Norderneys nervös. Für gereizte Stimmung sorgen vielmehr die nach Meinung der ...

Die Fähre „Frisia VI“ ist kaum eingelaufem, da brausen auch schon mit Blaulicht und Martinshorn Krankenwagen und die Notärztin ums Eck. Infusion und beruhigende Gespräche vor der Bar des Fährschiffs. Die ältere Dame hatte auf der Überfahrt von Norderney nach Norddeich eine Kreislaufschwäche erlitten, vielleicht auch einen Herzinfarkt.

Solcherart eingestimmt, erwartet man aufgeregte Gift-Szenen auf Norderney. Doch Hafen und Inselstädtchen wirken verschlafen, sind bei dem windigen Regenwetter wie leergefegt. Nur hinter den Vorhängen, in den eigentlich geschlossenen Kneipen, schlägt einem manchmal Aggressivität entgegen. Nicht wegen der Pestizidbeutel am Strand – solche Anschläge der internationalen Seeschiffahrt sind die FriesInnen gewöhnt. Die Fernsehbilder und die Reaktionen ihrer Gäste machen sie gereizt. „Bei manchen Anrufen“, schimpft Norderneys Ordnungsamtsleiter Ludwig Salverius, „hat man inzwischen den Eindruck, Norderney schwimmt inmitten einer rötlichen Giftbrühe.“

Schwimmt die Insel natürlich nicht. 25 Pestizidbeutel sind bis zu diesem Dienstag mittag an den kilometerlangen Stränden der Insel gefunden worden. Den ersten am Stadtstrand habe ein Norderneyer Bürger gefunden, erzählt ein Streifenpolizist. „Da vorne, direkt vor der Kurklinik der Landesversicherungsanstalt (LVA).“ Vor der Bettenburg am Strand laufen vier Mitarbeiter der städtischen Baubehörde gerade den Strand ab und suchen in Regenzeug, mit Zangen und Wassereimern nach weiteren glänzenden Giftbeuteln.

Johann Rass hat am Strand von Norderney in den vergangenen Jahren schon allerhand Dreck eingesammelt. Der stämmige ältere Mann mit der Prinz-Heinrich- Mütze und gelbem Regenzeug kratzt bei Regen und Wind stoisch in den von der Flut angeschwemmten Pflanzenresten. Nichts übersehen, lautet die Direktive.

„Die Beutel kann man mit dem Handschuh anfassen“

Als ihn aber ein Tourist auf ölverschmierte Vögel am Strand anspricht, eines der regelmäßigeren Umweltprobleme auf der Insel, steigt er fast aus dem Anzug. „10.000 Mark Strafe gibt's für sowas. Das ist weniger, als die zahlen, wenn sie das Öl im Hafen entsorgt hätten.“ Dann wendet sich Rass wieder dem Strand zu. Außer Styroporstücken und Mayonnaise-Eimern ist nach der Morgenflut an diesem Strandabschnitt Fehlanzeige. Bei der ersten Runde am frühen Morgen hatten Rass und seine Kollegen dort immerhin zehn Giftsäckchen von der Abendflut gefunden. Angst vor dem orangeroten Teufelszeug wollen sie nicht haben. „Die Beutel kann man doch mit dem Handschuh anfassen, das ist doch alles aufgeblasen“, meint einer von Rass' jüngeren Kollegen. Seinen Namen will er allerdings nicht nennen.

Ob im Spar-Laden an der gepflasterten Seitenstraße oder in der Bank, am Strand oder im Bürgermeisteramt – die einzige Sorge der meisten Insulaner ist die nächste Saison. „Das ist der einzige Industriezweig, von dem wir leben“, erklärt der Filialleiter der Raiffeisenbank, Günther Hinrichs. Nur 6.500 Einwohner, dafür aber über drei Millionen Übernachtungen in der vergangenen Saison. Im Sommer wächst die Einwohnerzahl des Städtchens leicht auf 30.000.

„Eigentumswohnungen kosten hier acht- bis 15.000 Mark je Quadratmeter“, weiß Hinrichs. „Und das Geld, das im Sommer verdient wird, wird im Winter und Frühjahr in die Vergrößerung und Verschönerung der Häuser gesteckt.“ Mehr als 30 Millionen Mark würden in Norderney so pro Saison investiert, schätzt er. „Wir sind eben abhängig von guten Saisons. Und jetzt hat es schon die ersten Absagen gegeben, obwohl die Beutel gestern nicht einmal angekommen waren.“

Erfahrungen dieser Art haben die Insulaner genug gemacht. Robbensterben, heißt es im Sparladen, die Salmonellenverseuchung an den Stränden vor einigen Jahren fällt Ordnungsamtsleiter Salverius ein, und an die angeschwemmten giftigen Phenole erinnert sich Strandläufer Johann Rass.

Gereizt sind die Insulaner, ohne Katastrophenstimmung zu verbreiten. „Das letzte größere Ding dieser Art waren erst vor zwei Jahren ungefähr 30 Giftfässer, die aus mehreren verlorengegangenen Containern eines brasilianischen Frachters stammten“, erzählt Hannelore Schröder von der Wattenmeerstelle der Umweltverbände BUND und WWF auf Norderney. Die Nordsee werde leider ständig als Müllkippe mißbraucht. Und Bernhard Jansen, Offizier auf dem Fährschiff, erinnert sich, daß auch bei den Herbststürmen 1993 in der Deutschen Bucht Container verloren gegangen seien. „Das kommt häufig vor, auch schon mal mit Chemikalien, aber so ein gefährliches Pflanzengift noch nicht.“

Ordnungsamtsleiter Salverius hofft derweil, daß die Tütchenpest diesmal noch weitgehend an ihnen vorübergehen möge. „Wir haben Südwestwind. Der Großteil der Beutel wird jetzt wohl auf die nordfriesischen Inseln zutreiben.“ Salverius, der in Personalunion das Bauamt und das Ordnungsamt des Inselstädtchens leitet, braucht eine Pause. Der Enddreißiger sieht mitgenommen aus.

Unruhig flackern auch die Augen von Dieter Hoblitz. Der Verwaltungsleiter der Kurklinik Norderney der LVA deutet auf ein Warnschild, das er am Empfang hat aufhängen lassen. „Aufgrund der Gefährdung durch hochgiftige Insektenvertilgungsmittel sind die Strände vor Norderney für jeglichen Publikumsverkehr gesperrt“, heißt es da. Das stimmt zwar nicht, eine Sperrungsanordnung hat es nie gegeben, und sie findet sich auch auf den Infozetteln der Norderneyer Stadtverwaltung nicht. Aber vor Hoblitz' Klinik war am Montag der erste Beutel gefunden worden. Und auf dem Deich vor seiner Klinik sitzt am Dienstag mittag eine Silbermöwe mit orangeroter Färbung am Schnabel. Sie sieht ermattet aus.