Sommer 94: Giftcocktail im Strandkorb

■ Greenpeace fordert Katastrophenalarm / Kieler Landesregierung will alle Strände sperren lassen

Hamburg/Kiel (AP/dpa/taz) – Dreißig Gifttüten sind, wie der Bürgermeister Remmer Harms der taz mitteilte, bis gestern nachmittag auf Norderney angelandet. Das Fremdenverkehrsamt räumte ein, daß es schon zu Stornierungen durch Feriengäste gekommen sei. Nach den Ostfriesischen Inseln warten jetzt auch die nördlich gelegenen Eilande und die Bewohner der Küste auf die Beutelpest. Der Großteil der rund 100.000 noch nicht gefundenen Giftbeutel aus der „Sherbro“ ist an den Ostfriesischen Inseln vorbeigezogen und bewegt sich nun auf Nordfriesland zu.

Entgegen früheren Berechnungen befinde sich offenbar ein bislang nicht bekannter Pulk der Giftsäckchen nördlicher in der Deutschen Bucht, erklärte das Bundesamt für Seeschiffahrt und Hydrographie am Dienstag in Hamburg. Über 50 Giftbeutel mit dem Beizmittel „Apron Plus 50 DS“ wurden bis zum Dienstag mittag an den deutschen Nordseeinseln gefunden, 30 davon auf Helgoland. Die ersten Giftbeutel aus der Ladung des französischen Frachters, der nach Erkenntnissen der holländischen Polizei „korrekt“ beladen war, erreichten gestern das schleswig- holsteinische Festland. In St. Peter-Ording wurden Dutzende von Beuteln mit dem Pflanzenschutzgift Apron Plus gefunden. Das Landratsamt in Husum geht davon aus, daß es bis zu 100 sein könnten. Auch weiter südlich im Kreis Dithmarschen wurden erste Giftbeutel am Festland gefunden. Die Landesregierung will nun alle Strände an der Nordseeküste sperren lassen, kündigte der amtierende Kieler Umweltminister, Hans Wiesen (SPD), an. Der CDU-Fraktionschef im niedersächsischen Landtag, Jürgen Gansäuer, nutzte die Beutel prompt für eine Profilierung im Wahlkampf und forderte den Einsatz von Bundeswehrsoldaten zur Unterstützung der Suche nach den Giftbeuteln. Greenpeace forderte die beteiligten Regierungen auf, „sofort Katastrophenalarm“ auszulösen und die Aufräumgruppen an den Stränden zu verstärken.

Klaus Huber vom Hamburger Bundesamt sagte, die Funde in Helgoland und auf Pellworm hätten alle früheren Berechnungen über den Haufen geworfen. Wolf Wiechmann von der Umweltschutzorganisation Greenpeace erklärte: „Die in der Nordsee gegen den Uhrzeigersinn laufende Strömung könnte die Beutel wieder auf das Meer hinaustragen. Es ist aber auch möglich, daß das Zeug weiter Richtung Helgoland oder sogar Richtung Westerland und Sylt unterwegs ist.“

Die Ciba-Geigy-Beutel könnten noch eine lange Reise vor sich haben. Denn kleine Plastiktütchen schwimmen über lange Strecken. So verfrachtet die Nordseeströmung allen möglichen schwimmenden Müll vom Ärmelkanal bis nach Südnorwegen. Ein Teil könnte in die Ostsee gelangen, der größte aber mit dem Drall des ausströmenden Ostseewassers längs der norwegischen Fjordküste in das Eismeer reisen. Diesem Strom folgt täglich ein mehr oder minder großer Querschnitt menschengemachter Abfälle: Plastik-, Styropor- und Papp-Packungen, Schaumgummi, Rohplastikgranulate, Sechserpack-Ringe von Getränkedosen, Hölzer, Flaschen, Fischereigerät und Nahrungsreste. Zur „Vermüllung der Nordsee“ nennt Eike Hartwig vom Institut für Naturschutz- und Umweltschutzforschung des „Vereins Jordsand zum Schutz der Seevögel und der Natur“ in Ahrensburg bei Hamburg Zahlen, die den ökologisch bedenklichen „Fortschritt“ der Wegwerfgesellschaft beleuchten.

Am Strand der Insel Scharhörn in der Elbe-Mündung dominierten 1980 Holzreste mit 41,4 Prozent die Müll-Liste vor Plastikabfällen (28,3) und Glasflaschen (14,4 Prozent). Papier/Pappe kamen auf 7,5 Prozent. Ein völlig anderes Bild dann 1989: Kunststoffe kletterten auf 64 Prozent. Holzstücke gingen auf 12,7 zurück, Pappen stiegen auf 14,2 Prozent. Hartwig: „Biologisch schwer abbaubare Kunststoffe, überwiegend Verpackungen, haben enorm zugenommen.“ Die Gefahr durch Apron darf nach Ansicht von Experten nicht unterschätzt werden: In Laborversuchen starben Fische noch bei einer Verdünnung von 30 bis 120 Millionstel Gramm pro Liter Wasser. Tagesthema Seite 3