Verlust der Aura bewiesen

„Inventionen '94“ – Ein kritischer Zwischenbericht  ■ Von Fred Freytag

Im günstigen Falle ist ein Neue- Musik-Festival mehr als eine Ansammlung verschiedener Konzerte. Denn nicht nur, daß man nicht wüßte, wovon flankierende musikologische Vorträge zu sprechen hätten – nein –, der Wunsch nach einem geistigen Konzept, einer zerebralen Wäscheleine gewissermaßen, einem Fünkchen Ordnung im noch ungeordneten Chaos des zeitgenössischen Schaffens hat sich durchgesetzt: Die Inventionen, das Berliner Festival Neuer Musik, bedenken dieses Jahr Stockhausen mit einer üppigen Werkschau und bieten „Musik für Schlagzeug“ als zweiten Schwerpunkt.

Das Arditti-Quartett, das zu Neue-Musik-Festivals gehört wie das Sauerkraut zum Rippchen, spielte zur Eröffnung am 16. Januar Berg, Schönberg und Webern. Angesichts der Tatsache, daß diese Werke zwischen 50 und 90 Jahre alt sind, stellt sich die Frage, ob nicht dieses Konzert bereits, perfide versteckt, den Konservatismus in der Neuen Musik als heimliches Thema der diesjährigen Veranstaltung ankündigte, wiesen doch diverse Uraufführungen in diese Richtungen. Und sind doch sowohl Stockhausen als auch Schlagzeugmusik weniger Themen, denn Rubriken, die sich aus den Repertoirelisten der engagierten Ensembles füllen lassen.

Stefan Carow jedenfalls erhob mit seinem Stück „Music for Percussion Pauken und 2 Pianos“ überdeutlich seinen Zeigefinger in Richtung minimal-music-angereichertem Debussy, und dem Leningrader Tonsetzer Alexander Knaifel gelang es erfolgreich, Morton Feldmans Kompositionstechniken für pseudoreligiöse New-Age-Musik zu recyceln. „Odd and even“, ein hübsches und schlüssiges Trio für Flöte, Klavier und Perkussion von Georg Katzer, das das Ensemble Köln in der Kammerphilharmonie uraufführte, erschien neben Varèses „Inégrales“ und Berios „Différences“ seltsam brav, obwohl es fast vierzig Jahre jünger ist. Und auch die junge englische elektroakustische Musik, der ein Abend in der Akademie der Künste gewidmet war, bot nur einen Abglanz der elektronischen Aufbruchstimmung in den Tonbandstücken der fünfziger Jahre (Stockhausen: „Gesang der Jünglinge“ in mehrkanaliger Version, am letzten Samstag im SFB-Sendesaal). Ein armer Perkussionist durfte das Kunststück vollführen, zu vorfabrizierten Tonbändern immer im richtigen Moment auf die richtige Trommel zu hauen, was zwar sichtlich virtuos und gekonnt war, aber durch die Abwesenheit von Agogik und interpretatorischer Gestaltung etwas starr wirkte. Oder es erklang reine Lautsprechermusik, die weniger Lautsprechermusik war, als in ihrer Imitation instrumentaler oder symphonischer Verläufe überzeugend den Verlust der Benjaminschen „Aura“ unter Beweis zu stellen, um schließlich in die absurde Situation eines die Reproduktionsanlage beklatschenden Publikums zu münden. Rolf Julius hingegen erzeugte mit Hilfe mikroelektronischer Bauteile in seinem „Konzert für vier leere Flächen“ allerlei leise zischelnde, summende oder sirrende bis vor sich hinblubbernde Geräusche, die einen erfrischend charmanten und ganz eigenartig harmlos-musikalischen Kosmos eröffnen. Zu zwei Klanginstallationen aber (von Martin Riches bzw. Stephan von Huene), die in den Vorräumen des Konzertsaales der Akademie der Künste aufgebaut sind, habe ich ein geradezu allergisches Verhältnis entwickelt. Selbst in den wohlverdienten Konzertpausen hämmern oder klopfen sie repetierende Perkussionsmuster oder brachiale Trommelwirbel, so daß durch den ungünstigen Standort der Apparaturen für die Abwesenheit jeder Stille gesorgt ist und eine unvoreingenommene Begegnung geradezu unmöglich wird.

Auf ein ganz anderes vielversprechendes Ereignis habe ich Unglücksrabe in dieser Zeitung letzte Woche hingewiesen: endlich Musik von Jean Barraqué und dem in Berlin viel zuwenig wahrgenommenen Mario Bertoncini – und hatte nicht mit der Slagwerkgroep Den Haag gerechnet, die ihrem Namen alle Ehre machte und kurzum alles kleinschlug; am verheerendsten Barraqué: Die arme Solo-Sopranistin stand da fischmäulig stumm inmitten vier lärmender Schlagzeuger und sang in Wirklichkeit sicher in ihren lautesten Tönen. Aber es war ein aussichtsloses Gefecht, hören konnte man nichts.

Der sensiblen Musik Bertoncinis erging es nicht besser, die Becken wurden geknarrt statt gestrichen, anzutupfende Klänge wurden Sforzati, und zu allem Überdruß begannen die Musiker auch noch, lauthals zu singen. Von „homogenen Zonen gehaltener Klänge“ konnte die Rede nicht mehr sein. Und mit Theo Loevendies einfältiger Rhythmusorgie auf afrikanischen Trommeln offenbarte die Slagwerkgroep schließlich, daß sie lieber Workshops in der Toskana geben sollte, anstatt auf Festivals Neuer Musik aufzutreten.

So waren die Höhepunkte bisher rar gestreut. Das bereits erwähnte Ensemble Köln unter seinem musikalischen Leiter Robert HP Platz interpretierte (wie bereits vor zwei Jahren) schlichtweg begeisternd und wird morgen im SFB (20 Uhr) mit Stockhausens „Mixtur“ nochmals zu hören sein. Ob aber die neunziger Jahre musikalisch noch zu gebührenden Ehren kommen, wird sich nicht nur bei den Uraufführungen elektroakustischer Musik am 2. Februar erweisen (Akademie der Künste, 20 Uhr), sondern auch bei den Performances im Hebbel Theater (4. und 5. Februar, 20 Uhr: „Auroras“ von Roberto Paci Dalo), im Künstlerhaus Bethanien (7. Februar, Gordon Monahan „Sound And The Machines That Make Them“, 22.30 Uhr) und diversen Uraufführungen, unter anderem des jungen Berliner Komponisten Orm Finnendahl („Wheel of Fortune“, Akademie der Künste, 5. Februar, 18 Uhr).