Heimgeholt ins Museum

Mehr Nachläufer der modernen Avantgarde als bunte semiotische Legokiste: Im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt versucht man die Geschichte des Videoclips auf gut kulturhistorisch in den Plot zu kriegen  ■ Von Jörg Heiser

Beavis und Butthead haben einfachere Maßstäbe als die Ausstellungsmacher, die im Frankfurter Filmmuseum den Videoclip seiner musealen Weihe zuführen: „It sucks“ oder „that's cool“.

Diese adoleszenten Werturteile in ihrer entwaffnenden Eleganz möchte man als Besucher von „Sound & Vision – Musikvideo und Filmkunst“ wie Beschwörungsformeln vor sich hinmurmeln, wenn die MTV-Welt gewaltsam auf Ausstellungsformat zugerichtet wird – was zwangsläufig der Fall ist, wenn die konzeptionelle Vorgabe einen derart weiten Bogen spannt: die gesamte Ästhetik der „visuellen Musik“ des 20. Jahrhundert auf vielleicht 200 Quadratmetern und ein paar Stunden Videoband.

Leicht ist es da, über Lücken und Mängel zu nörgeln, aber doch nicht ganz unberechtigt. Denn nicht allein die Größenordnung der Ausstellung verengt den Blick, sondern auch die traditionell kunsthistorische Herangehensweise: Als Datum der ästhetischen Kanonisierung des Musikvideos werden die deutschen Konstruktivisten der zwanziger Jahre herbeizitiert. Sicherlich hat es seine Berechtigung, die zu Musikstücken synchronisierten Choreographien abstrakter Farb- und Formspiele, die Oskar Fischinger schon damals auf Film bannte, einmal formalästhetisch an die Seite heutiger Animationstechniken zu stellen – einverstanden. Aber muß damit gleich das gesamte Kunstverständnis der Moderne, das in der Reduktion auf abstrakte optische Elemente die Reinheit der „inhalts-losen“ Gestaltung suchte, auf die Welt des Videoclips projiziert werden? Was dazu wohl Beavis und Butthead sagen würden?

Die Parallelen zur modernen Avantgarde sind vereinzelter und oft auch objektiv ironischer Natur. Die Künstler der Novembergruppe um Hans Richter etwa wollten mit ihrer Theorie vom „absoluten“, das heißt abstrakt gegenstandsfreien, Film unter anderem die Gestaltungsarbeit der „visuellen Musik“ von Geniekult und Autorenprinzip befreien; und genau diesen Aspekt findet man in zeitgenössischen Musikvideos verwirklicht – auch wenn MTV-USA seit 1993 (wie jetzt auch der Kölner Musiksender Viva) die Namen der Clip-Regisseure einblendet. Die abstrakte Formsprache der Moderne jedoch, das Leitmotiv der Ausstellung, ist nur eine Facette im postmodernen Bilderreservoir des Musikvideos.

Um das zu bemerken, muß man nur wenige Stunden MTV schauen – und wird dabei auch feststellen, wie sich das Medium bereits selbst reflektiert und historisiert: Man denke nur an die stakkato-artigen Zusammenschnitte, mit denen MTV zwischen einem neunminütigen Guns'n'Roses-Video und der C&A-Werbung mal eben noch schnell ein paar Highlights aus thematisch verwandten Videos verdichtet. Der quietschbunt dandyeske Cyperspace der Pet Shop Boys wird neben die tumbe Schüssel-auf-dem-Kopf-Computerwelt des deutschen Hitparaden-Techno-Acts U 96 gestellt – und schon ist MTV sein eigenes Museum. Da hat es natürlich eine Ausstellung schwer, mitzuhalten.

Aber sie macht es sich in ihrem Bemühen, Kunstkriterien der Moderne auf Popkultur anzuwenden, eben auch selbst schwer. Zwar wird im Katalog die „Problematisierung des Avantgardebegriffs“ versprochen, und Ausstellungsinitiator Herbert Gehr begrüßt den Auflösungsprozeß der Kategorisierungen High und Low Culture; doch dann wieder wird die vielbeschworene und -gescholtene Clip- Ästhetik dadurch für die Kunstgeschichte gerettet, daß ein kleiner Teil der Musikvideo-Welt nach reinformalästhetischen Gesichtspunkten als „Avantgarde“ kanonisiert wird: Hier haben wir das wertvolle Peter-Gabriel-Video, dort das besonders wertvolle Residents-Video. Schauen Sie, dieser Ausdruck, diese Kraft der Bildersprache, diese Transgression!

Daß jedes aufwendig animierte Peter- Gabriel-Video mit seinen Knetmasse- Spielereien von tschechischen Lolek- und-Bolek-Kinderfilmchen in die Ecke gestellt wird und die Residents nicht deshalb etwas zur Popmusik beigetragen haben, weil sie dekorativ große Augenkugeln auf dem Kopf umhergetragen haben, hätte man der Ausstellung vielleicht etwas mehr anmerken müssen. Im übrigen ist das von den Residents entwickelte „Freakshow“-Computerprogramm zwar schön und liebevoll gemacht, hat aber keineswegs einen Avantgardeanspruch gegenüber den Adventure- und Fantasy-Spielen mit ihren 3-D-Animationen und aufwendigen Soundeffekten.

Den Avantgardebegriff kann man nicht dadurch aktualisieren, daß anstatt hoher Kunst jetzt Popkultur nach seinen Kriterien beurteilt werden soll. Als strategische Verteidigung gegen Kulturpessimismus taugt das am Ende überhaupt nicht, denn das zur künstlerisch wertvollen Ausnahme erkorene Video bestätigt natürlich am Ende die vermeintliche Regel. So darf Wim Wenders gleichzeitig schlechte Videos für U2 drehen (Bono als Engel auf der Siegessäule – na wunderbar!) und sich im Ausstellungskatalog als „von Bildern umzingelt“ bedauern: „Ja, die Wahrnehmung wird vernichtet...“

Michael Leckebusch dagegen kommt zu Recht zu Ehren: Mit seinen einfachen Animationen, Graphiken und Blue-Screen-Tricks für den Beat-Club von Radio Bremen hat er in den frühen Siebzigern Pionierarbeit geleistet. Schön auch, daß man in Frankfurt eine US- Filmjukebox aus den Sechzigern zeigen kann, auf der kurze Filmloops zu damaligen Hits auf Knopfdruck zu sehen sind.

Aber das Medium Musikvideo als übervolle semiotische Legokiste, in der das ästhetische und soziale Bewußtsein eines breiten, jungen Publikums generiert und gleichzeitig affirmiert wird, bleibt unberührt. Man hat wieder nichts über die Leute gelernt, die mit Musikvideos aufwachsen. Interessant wäre es gewesen, sich – zum Beispiel auch in Podiumsdiskussionen (oder wenigstens Katalogtexten) – dekonstruktiv mit der Schule der Musikvideos zu beschäftigen, die ihre „Botschaft“ zu Mini-Plots verdichten; aber in Frankfurt glaubt man, dies sei schon mit dem Verweis auf „Hollywood“ erledigt.

Dabei gibt es in jüngster Zeit einige Beispiele gelungener Clip- Short-Stories, die massiv Bezug nehmen auf die krisenhaften sozialen Umwälzungen im spätkapitalistischen Westen, ohne krisenhysterisch den Untergang zu beschwören; ich denke da vor allem an die Aerosmith-Videos zu „Living On The Edge“ und „Crying“: In ersterem wollen zwei Jungen mit gestohlenem Wagen gegen eine Mauer fahren, um ihrem vermeintlich sinnentleerten Jugenddasein ein Ende zu setzen – um dann, nach weichem Aufprall auf Airbag, das neugewonnene Leben zu feiern. Im zweiten trennt sich ein Mädchen von ihrem Freund; weil sie ihn aber nicht ganz seinem verhärmten Machismo überlassen will, stellt sie sich in einer Selbstmordaktion auf eine Brücke, läßt Polizei samt Exfreund auffahren, springt – um dann am Bungee-Seil hängend dem dumm aus der Wäsche guckenden Lover den Stinkefinger zu zeigen. Selten war Sicherheitstechnik so hilfreich.

Genauso wenig berücksichtigt ist das CNN der afro-amerikanischen Kultur: „Yo! MTV Raps“ mit den aktuellen HipHop-Videos, in denen die Black Community sich und anderen über sich erzählt. Selbst nach formalästhetischen Gesichtspunkten hätte man dort fündig werden können: „Scenario“ (1992) von A Tribe Called Quest zum Beispiel ist meines Wissens das erste Video, das ganz direkt mit der Computerbildschirm-Gestaltung gearbeitet hat: Die Rapper werden wie in einer Windows- Oberfläche angeklickt und „hervorgezogen“, wenn sie mit ihrem Rhyme an der Reihe sind.

So geht's: bleibt die komplexe und ambivalente gesellschaftliche Funktion der Popkultur außen vor, ist die heile Museumswelt wieder hergestellt. Für Beavis und Butthead dagegen, die mit Musikvideos leben wie die Generation vor ihnen mit Vinylsingles, ist MTV noch lange nicht zu Ende gedacht – auch wenn die tönenden Bilder schon auf das Zeitalter der interaktiven Medien deuten. That's cool.

„Sound & Vision. Musikvideo und Filmkunst“. Deutsches Filmmuseum, Frankfurt/M., noch bis zum 3. April 1994. Katalog erhältlich, ebenso eine Monographie zu Leben und Werk Oskar Fischingers.