Sondermüll sucht Lagerstätte

Wie die Landesregierung von Sachsen-Anhalt nach einer Sondermüllkippe sucht und dabei auf Micheln bei Dessau verfallen ist  ■ Aus Micheln Hermann-Josef Tenhagen

Bürgermeisterin Jeanette Streuber macht ihren MitstreiterInnen im Konferenzzimmer des Altersheims Trebbichau Mut. „Die Generalprobe hat geklappt. 2.089 Einwendungen gegen die Sondermülldeponie haben wir im Raumordnungsverfahren gesammelt. Es ist eindeutig unser Verdienst, daß wir Bambule gemacht haben.“ Die, so hofft die resolute Politikerin, wird höherenorts auch politisch beeindrucken.

Dieser politische Eindruck ist dringend nötig. Beim Auswahlverfahren der Magdeburger Landesregierung für die einzige Sondermülldeponie des Landes läuft nämlich alles auf Micheln zu. Der Standort auf einer 70-Meter-Erhöhung unweit der Elbe bietet einen für Geologen und Deponieplaner relativ attraktiven Untergrund – Unmengen Lehm. Und Micheln liegt nicht nur am Rande des Biosphärenreservats „Mittlere Elbe“, es liegt vor allem nicht weit von den Anlagen und Altlasten der chemischen Industrie entfernt, von Wolfen und Bitterfeld eben. Im Land fielen 1992 noch rund 500.000 Tonnen Sondermüll an.

Die Mühlen der Bürokratie haben schon zu mahlen begonnen. „Nach den Richtlinien des Landes für die Standortsuche darf eine Deponie eigentlich nicht näher als einen Kilometer an einer Siedlung liegen“, so Streuber. „Doch bei uns hat man eine Ausnahme gemacht. Wir sind der einzige von 68 untersuchten Standorten, der dieses Kriterium nicht erfüllt.“ 500 Meter liegt das Dorf von der geplanten Giftmüllkippe weg.

Die von der Landesregierung beauftragten Ingenieurbüros bewerteten die 68 Standorte nach einem detaillierten, selbst von Ökologen und der Bürgerinitiative nicht prinzipiell bestrittenen Katalog. Der reichte von der Größe der Deponiefläche über Möglichkeiten zu ihrer Erweiterung und der Qualität des Unterbodens bis zur Frage, ob Erholungs- und Freizeitgebiete in der Nähe liegen.

Doch auf heftige Kritik stieß eine weitere Vorgabe. Das Ingenieurbüro IUH aus Halle hatte nämlich das Bundesland auf der Suche nach einem Platz für jährlich 100.000 Tonnen Giftmüll in 16 verschiedene Regionen eingeteilt. Bei der Auswahl der genau zu untersuchenden Finalisten verließ man sich nicht allein auf die Standortqualität, sondern vor allem die Eignung relativ zu anderen Standorten in der gleichen Region. Mit anderen Worten: Zweifelhafte Standorte kamen mit in die zweite Runde, wenn sie nur die Besten in ihrer Region waren. Gute Standorte fielen dagegen aus der weiteren Untersuchung heraus, weil es in ihrer Region noch einen vermeintlich besseren gab.

Micheln kam ins Finale. Die Hügelkuppe galt als der beste Standort in der Region Köthen-Bitterfeld. Dann gehörte Micheln wegen seines Lehms zu den besseren der regional ausgewählten Standorte. Und schließlich geriet der Lehmhügel vor dem Dorf wegen seiner „sehr günstigen geologischen Bedingungen“ (Zitat IUH) zeitweise sogar auf Platz eins der Vorschlagsliste des Ingenieurbüros. Von den Standorten in der Endausscheidung soll nun der „unter geologischem Aspekt geeignetste Standort den Vorzug ... genießen“. „Dabei lagen wir nach Punkten nur auf Platz 22 von 68“ klagt Bürgermeisterin Streuber.

Nicht nur die Michelner BI, auch Professor Jürgen Dassow, Rektor der Magdeburger Uni und Leiter des Deponieforums, das die Landesregierung bei der Standortsuche berät, findet die politische Entscheidungsvorgabe „nicht optimal“. „Es ist nicht sicher, daß damit der beste Standort gefunden wird.“ Das Motiv für die Regionalisierung ist dem Wissenschaftler sonnenklar: „Wenn wir die besten Standorte des ganzen Landes nur genommen hätten, dann würden die aus rein geologischen Gründen im Norden von Sachsen-Anhalt liegen. Die chemische Industrie, die den Sondermüll produziert, liegt aber im Süden des Landes.“ Nah bei Micheln, kann man hinzufügen.

Auch wenn es in der Standortfrage insgesamt auf Micheln zuzulaufen scheint — festgeklopft ist noch nichts. In Magdeburg wird nämlich zusätzlich über den Entwurf des Sonderabfallplans beraten, in dem sich auch eine heftig umstrittene Sondermüllverbrennunganlage in der Region Bitterfeld findet. Das Entsorgungs- und Verwertungszentrum Bitterfeld möchte einen solchen Sondermüllofen bauen, der dortige Regierungspräsident lieber nicht. Die BASF-Tochter Kali+Salz will zudem in der stillgelegten Kaligrube Zielitz jährlich 50.000 Tonnen Giftmüll unter Tage einlagern. Hauptproblem aber ist, daß das Land eigentlich gar nicht weiß, für wieviel Sondermüll künftig überhaupt Kapazitäten geschaffen werden sollen. Die Berechnungen, die bislang vorgelegt wurden, reichen bis ins Jahr 1995. Der Entwurf des Sonderabfallplans geht von einer nicht spezifizierten Verminderung des anfallenden Giftes aus. Bernd Hartmann vom Öko-Zentrum und Institut Magdeburg faßt das Dilemma zusammen: „Es gibt keine brauchbare Bedarfsermittlung. Wir brauchen wohl Entsorgungskapazitäten, aber die Regierung muß mit Fiktionen arbeiten.“

Genau das hat mit sicherem Instinkt auch Bürgermeisterin Streuber erkannt. „Der Sonderabfallentsorgungsplan ist noch nicht vom Landtag verabschiedet worden.“ Ihre Schlußfolgerung: „Die Verwaltung kann die Standortauswahl doch nicht bis auf einen verengen, ohne den Gesetzgeber zu beteiligen.“

Die Michelner sind zum Widerstand entschlossen. Auf einer Versammlung der BI wird festgelegt, daß ein Verein zum Kampf gegen die Deponie gegründet werden soll. Immerhin 3.400 Menschen müßten in der engsten Umgebung der geplanten Deponie leben, nicht zu reden von den 20.000 Wildgänsen, die jedes Jahr dort überwintern. Vor allem aber will man die Grundeigentümer des Deponiegeländes stärker in den Widerstand einbinden. „Alle 14 haben Einwände gegen den Standort erhoben“, freut sich Bauer Kurt Massag, der den Widerstand für diesen Bereich organisiert.

Als nächstes planen die Michelner Straßenblockaden und andere Aktionen – während die Menschen in den Amtsstuben über den Akten für das Raumordnungsverfahren sitzen. Den Bürgerinnen und Bürgern im Altenheim Trebbichau dämmert, daß es in den kommenden Monaten auf sie ankommen wird.