Philosophie nach Adorno

■ Zwei Beiträge zu Moral und kritischer Philosophie

Moraltheoretische Debatten bestimmen gegenwärtig den philosophischen Diskurs. Doch wird hierbei weniger diskutiert, was die Philosophen zu tun hätten, sondern was die anderen zu tun haben – um sich selbst von jedem Handlungsgebot freizusprechen. Soziales Unrecht und fortschreitende Naturzerstörung sind nur selten Ausgangspunkt für die moralische Frage nach dem richtigen Handeln; viel mehr fungieren sie bloß als Beispiele. Spärlich sind Stimmen, die darauf reflektieren, wie ein Handeln bestimmt sein müsse, nachdem der Wennfall eingetreten ist, ohne daß gegen ihn eine Moral wirksam wurde.

Zu diesen Stimmen zählt die kritische Theorie Theodor W. Adornos. Gerhard Schweppenhäuser hat in seinem Buch „Ethik nach Auschwitz“ dargelegt, daß moraltheoretische Überlegungen einen zentralen Stellenwert im Denken Adornos haben. Anhand von Vorlesungsmaterial (welches als Nachlaß im Suhrkamp-Verlag erscheinen wird) stellt sich Schweppenhäuser gegen die akademische Meinung, Adorno hätte keine Moralphilosophie ausgearbeitet. Richtig ist, daß Adorno keine systematische Morallehre gleichsam als Programm erstellt hat, sondern hier negativ und immanent kritisch verfährt. Das heißt, zum einen bestimmt er Moral an dem, was nicht länger sein soll, zum anderen zeigt er an bestehender Moralphilosophie ihre Widersprüchlichkeit auf.

Claudia Rademacher zeichnet in ihrem Buch die Reichweite von Adornos Denken nach: die Absage an eine Perspektive der Versöhnung von Mensch und Natur, Subjekt und Objekt, zugunsten des Ziels gelungener Verständigung (Habermas) ist auch eine Absage an kritische Theorie: „Von dem Begriff 'Kritische Theorie' bleibt bei Habermas nur der Name.“ Beide Autoren haben in der Heine-Buchhandlung mit ihren Vorträgen betont, welche Doppelbedeutung die Forderung eines Denkens nach Adorno haben müßte, nämlich nicht nur Textexegese zu sein, sondern über Adorno hinaus zu denken, weil auch die Verhältnisse welche nach Adorno sind.

Es steht zu vermuten, daß Adornos Werk nicht darauf angelegt ist, es knapp 25 Jahre nach seinem Tod immer noch bloß zu interpretieren. Auch wenn die Diskussion nach der Lesung es auf bescheidwisserische Zitatschlachten anlegte, haben Schweppenhäuser und Rademacher unmißverständlich klar machen können, daß eine Philosophie nach Adorno wieder eine sein muß, die auch Welt verändert. Schließlich gilt Adornos Satz: „Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles“ auch für Adornos Denken selbst.

Roger Behrens

Claudia Rademacher: Versöhnung oder Verständigung? Kritik der Habermasschen Adorno-Revision, zu Klampen: Lüneburg 1993, 114 S., DM 28,-

Gerhard Schweppenhäuser, Ethik nach Auschwitz. Adornos negative Moralphilosophie, Argument Verlag: Hamburg 1993, 292 S., DM 29,-