„Soziologen streiken nicht“

■ Professor Boris Firsow über Krise und Perestrojka

Firsow ist der erste Russe, der in Hannover einen Lehrauftrag bekam. Im vergangenen Semester war er zu Gast im Institut für Journalistik. Der 64-jährige Firsow ist heute Direktor des St.Petersburger Instituts für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften

. taz:Sie machten eine schnelle Karriere, bis Ihnen 1984 im damaligen Soziologischen Institut gekündigt wurde. Was war der Grund dafür?

Zusammen mit einigen anderen Kollegen hatte ich einen ernsten Streit mit der Direktion des Institutes. Es ging um die Bestimmung der Soziologie: Soll die Wissenschaft nur die bestehende Gesellschaftsordnung beschreiben oder soll sie neue Wege suchen? Das Institut leiteten damals konservative Menschen, die keine Veränderungen wollten. Sie sahen in Andersdenkenden eine Bedrohung.

Was bedeutete diese Strafe?

Der Verlust des wissenschaftlichen Umfeldes war für mich das Bitterste. Ich konnte in einem anderen Institut arbeiten, hatte aber plötzlich keine vertraute Atmosphäre um mich, sozusagen keine Luft zum Atmen. Für diesen Streit wollte man mich erst aus der Kommunistischen Partei ausschließen, dann kam ich aber doch nur mit einer Verwarnung im Parteibuch davon.

Wie lange waren Sie in der KPdSU?

Bis 7 Uhr morgens, am 19. August 1991. Nachdem ich die Nachricht über den Putsch in Moskau gehört habe, bin ich mit einer schriftlichen Austrittserklärung sofort ins Institut gefahren. Drei Stunden später gab ich diese Erklärung dem Sekretär unserer Parteiorganisation. Ich verstand, daß das System hoffnungslos, unheilbar krank war. Am Anfang der Perestrojka hatte ich das Gefühl, daß es in der Partei noch einige gesunde Kräfte gab. Ich hoffte auf ihre Erneuerung. Doch mit dem Putsch verflog dieses Gefühl endgültig. Die Partei war ein Gigant auf Gipsbeinen, die am Ende zusammenbrachen.

Tut es Ihnen leid um sie?

Überhaupt nicht. Weder früher noch jetzt. Ich finde, sie war eine negative politische Kraft, die die Reformen gebremst hat. Nicht, daß ich blind oder dumm war ich habe nur lange geglaubt, daß im Rahmen dieser Ideologie eine fortschrittlichere Gesellschaftsordnung etabliert werden könnte.

Warum kam Ihnen dieser Gedanke erst spät?

Der Mensch ist nun mal so: Wenn er an etwas glaubt, dann hindert ihn die Behäbigkeit des Denkens daran, Dinge von der anderen Seite zu sehen.

Die russische Wissenschaft wird heute nicht ausreichend finanziert. Haben Sie trotzdem noch Lust, zu forschen?

Als ich Anfang November nach Deutschland fuhr, sollte erst der Lohn für die zweite Septemberhälfte ausgezahlt werden. Die Wissenschaftler halten es jedoch für unmöglich, zu streiken oder auf die Barrikaden zu gehen, weil sie keine Mittel bekommen. Wir werden andere Geldquellen für die Forschung suchen.

Welche Pläne haben Sie nach Ihrer Rückkehr in Rußland?

Ich werde die Arbeit am Projekt Die Qualität der Bevölkerung von St.Petersburg fortsetzen. Wir möchten untersuchen, wie unsere Mitmenschen mit der großen Belastung der sozialen Veränderungen fertig werden. Es ist ein Versuch, ihre innere Welt zu verstehen.

Fragen: A. Makartsev