"Was mein Mann aushält, das halte ich auch aus!"

■ Wenn man einer langhaarigen Ersatzschöffin folgt, oder: Was an einem Tag vorm Jugendgericht in Moabit an Lebensläufen zusammenkommt. Und zum Urteil führt.

Vor dem Schreiben gehe ich gerne noch mal spazieren. Und meistens bleibt es dabei, weil ich irgendwohin abtreibe. Gestern zum Beispiel nach Moabit. Hinter den Knast. Dort, im siebten Stockwerk des vorletzten Anbaus (D), befindet sich das Jugendgericht.

Ich war einfach einer langhaarigen Ersatzschöffin gefolgt, deren Kostüm, wie sich dann herausstellte, genau dieselbe Eierschalen-Farbe hatte wie der Schlips „ihres“ Jugendrichters. Der hielt es dann merkwürdigerweise erst einmal für nötig, mich, auf der Zuhörerbank, zu bitten, beim Mitschreiben nicht die – vollständigen – Namen der Angeklagten zu notieren: „Die sind so schon gestraft genug.“

Tatsächlich erwies er sich dann aber als ein ausgesprochen milder Jurist. Die ersten zwei Angeklagten, aus einem besetzten Haus und wegen „Widerstand am Alex“ von drei Bullen festgenommen worden, die jetzt als Zeugen geladen waren, hatten es trotzdem vorgezogen, nicht vor Gericht zu erscheinen. Von den Polizisten hatte einer seine sechsjährige Tochter dabei. Und die nahm nun fröhlich auf der Zeugenbank Platz.

Man vertagte sich jedoch und rauchte erst mal eine Zigarette auf dem Flur.

Als nächstes war ein junger Russe, ohne Anwalts- und Elternbegleitung, dran, der schon die ganze Zeit vor dem Saal 703 gewartet und in einem dicken kyrillischen Roman gelesen hatte. Alte russische Volksweisheit: Je doller Dosto jewski! Er war wegen Fahrens ohne Führerschein, zwei Verkehrsvergehen sowie Haschisch-, Kokain- und Heroinbesitz angeklagt, arbeitete zur Zeit per Arbeitsbeschaffungsmaßnahme als Dolmetscher, hatte in der Sowjetunion eine Lehre als Ölbohr-Techniker abgebrochen, als seine Eltern von Moskau nach Berlin zogen, und hier dann Deutsch gelernt. Damit verteidigte er sich nun:

Er lebte mittlerweile wieder bei seinen Eltern in Mitte, unterhielt seine Wohnung in Hohenschönhausen aber noch und ließ sich im übrigen gegen Bezahlung von einem Psychologen in Prenzlauer Berg beraten. Er sah sehr gut aus und sprach sehr leise.

Auf die Frage des Richters nach Entzugsschmerzen sagte er: „Schmerzen nicht, aber Lust!“ Der Richter nickte. Ich auch – als einziger Zuhörer im Saal. Der Russe wurde freigesprochen, sollte aber dafür dem Gericht schriftlich nachweisen, daß er bereits viermal beim Ostpsychologen gewesen war.

Der nächste Angeklagte war wieder nicht erschienen, wohl aber der Zeuge: Ein ebenso aufrechter wie fertiger Langzeitarbeitsloser, der den Abwesenden an der Bornholmer Brücke dabei erwischt hatte, wie er sich zwei zigarettenverkaufenden Vietcongs („Fidschis“ im Ost-Jargon) gegenüber als Bulle ausgegeben und sie sogar mit Handschellen gefesselt hatte, um ihnen die Zigaretten abzunehmen. Er sei zwar kein Freund dieses illegalen vietnamesischen Gewerbes, „Aber wo kommen wir denn hin, wenn jeder machen kann, was er will?“ sagte der Zeuge wie zur Entschuldigung, und nahm – aus, meiner Meinung nach falsch verstandener Bescheidenheit – nicht mal Zeugengeld in Empfang, als er ging.

Als nächstes wurde über ein wie ein Fascho-Popper aussehendes Schülerpärchen verhandelt, das sich auf seinem schweren ersten Gang zum Gericht von einem befreundeten Pärchen hatte begleiten lassen. Alle vier kauten Kaugummi wie verrückt und hatten kleine Brillanten in der Nase. Die Anklage lautete auf gemeinschaftlichen Raub mit geringer Körperverletzung: Sie waren mit dem Auto unterwegs gewesen und hatten dann einige Vietnamesen überfallen, um ihnen die Zigaretten wegzunehmen. Das (jüngere) Mädchen, obwohl sie es war, die zugeschlagen hatte, wurde freigesprochen und mußte auch keine Gerichtskosten zahlen, dafür aber zwei „Freizeit-Arbeitseinsätze“ ableisten. Ihr Freund bekam, als Erwachsener und weil von ihm der „Tat-Anstoß“ ausgegangen war, drei Jahre Bewährung und seinen Gerichtskosten-Anteil aufgezwungen.

Nach einem guten und nahrhaften Mahl in der Gerichts-Kantine (mit der Ersatzschöffin und einem hessischen Referendar, der sich für härtere Bestrafung „von Anfang an“ aussprach) ging es im Jugendgericht Moabit weiter mit drei Jugendlichen aus Lichtenberg: ein KFZ-Mechaniker-Azubi, ein Jobber, der Jura studieren wollte und ein Elektronik-Azubi. Die drei besaßen ein DDR-Abitur mit Berufsausbildung. Sie hatten sich eine Reihe von KFZ-Versicherungsbetrügereien geleistet. Mit fingierten Unfällen, Reparaturen, Verkäufen, zurückgestellten Tachos und Diebstählen, wo es in Wahrheit um ein Verschieben nach Polen gegangen war.

Nun stritt der eine, mit Anwalt, alles ab, ein weiterer, ebenfalls mit Anwalt, war nur mehr passiv beteiligt gewesen und der dritte, der sich „aus finanziellen Gründen“ alleine verteidigte, gab alles zu. Bei diesem gab die Marzahner Jugendgerichtshilfe-Referentin jedoch zu bedenken, daß seine alleinerziehende Mutter in Bonn, bei Angela Merkel im Familienministerium, arbeitete und ihren Sprößling nur noch alle 14 Tage „besuchte“. Ferner hatte der angeklagte Kurzhaarige den Schaden bei der Allianz-Versicherung bereits zurückgezahlt, mit Hilfe seiner Bonner Mutter. Der Richter erwähnte zwar einige „Ansatzpunkte für schädliche Neigungen“, wollte jedoch eine „Entwicklungsverzögerung“ nicht grundsätzlich ausschließen und verhängte schließlich ein Jahr Bewährung und 100 Mark Geldstrafe. Der andere Azubi bekam 700 Mark aufgebrummt, die er an einen „Lebenshilfe“-Verein überweisen mußte, und der angehende Jurastudent sollte in Raten 1.500 Mark zahlen – nachdem sein Anwalt die „Prozeßstrategie“ geändert und er alles zugegeben hatte. Die schmallippige Staatsanwältin wurde darob zwar noch schmallippiger, aber schließlich willigte sie in das Gesamturteil ein.

Der Zeuge, ein menschenfreundlicher Kripobeamter, der für „Versicherungsbetrug im ganzen Raum Berlin“ zuständig ist, wurde gar nicht erst gehört. Er setzte sich zu mir in die Zuhörerreihe, obwohl er überhaupt nicht mit mir darin übereinstimmte, daß ein Allianz-Versicherungsbetrug an sich ein grundsympathisches Verbrechen ist. Zumal wenn es so intelligent wie in diesem Fall, mit computergefälschten KFZ-Reparaturrechnungen und allem drum und dran ausgeführt wird. Am Tag zuvor war er gerade Zeuge in einem Prozeß gegen eine zwölfköpfige Familie inklusive Verwandtschaft, aus Zeuthen, gewesen, die ebenfalls mehrere KFZ-Versicherungsbetrügereien begangen hatte. Dabei war der Hauptschuldige mit 60 km/h gegen einen Baum gefahren. Seine Frau hatte jedesmal neben ihm gesessen: „Was mein Mann aushält, das halte ich auch aus!“ Den Bäumen ist dabei nie was passiert, „ob Sie es glauben oder nicht“, sagte der Kripobeamte, immer noch ein wenig verwundert über diese anscheinend unverwüstlichen märkischen Alleen. Helmut Höge