Winterliche Karpaten

Grenzerfahrungen im Dreiländereck Polen, Slowakei und Ukraine. Eine politische Reisereportage  ■ Von Klaus Bachmann

Im äußersten Südosten Polens, am Ende der internationalen Fernverkehrsstraße von Breslau nach Lemberg, wo die vierspurige Straße plötzlich wieder zweispurig wird und in einer steilen Kurve ins Tal hinunterführt, liegt Przemysl, einst K.u.k.-Festungsstadt, heute Hauptstadt der gleichnamigen Woiwodschaft. Eine Stadt zwischen dichtbewaldeten Hügeln, deren winklige Altstadt direkt am San liegt, der zu den Zeiten der Habsburger noch die Grenze zwischen Ost- und Westgalizien bildete. Im Westen waren die Polen, im Osten die Ukrainer in der Mehrheit, die Städte waren meist polnisch dominiert, die Dörfer ukrainisch. Die Grenze geht mitten durch Przemysl, wo der San von einer großen Brücke überspannt wird.

Nur noch 2.000 der 70.000 Einwohner der Stadt sind Ukrainer. Die meisten wurden nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen eines nur offiziell freiwilligen Bevölkerungsaustausches in die Sowjetukraine ausgesiedelt oder von der polnischen Armee über das ganze Land verstreut, vorzugsweise in die von den vertriebenen Deutschen übernommenen Gebiete. In Masuren, Breslau und Stettin gibt es heute mehr Ukrainer als in Przemysl, doch kulturelles Zentrum und symbolische Heimat ist ihnen die Stadt am San immer noch. Vor dem Krieg teilten sich Juden, Polen und Ukrainer zu etwa gleichen Teilen die Stadt, ein Großteil der heutigen Altstadt gehörte damals der griechisch-katholischen Kirche, in Galizien die Nationalkirche der Ukrainer.

Nach 1989 erhielt die griechisch- katholische Kirche einige ihrer früheren Gebäude zurück, was zu heftigen Auseinandersetzungen mit der römisch-katholischen und orthodoxen Kirche führte, denen der Besitz nach der Aussiedlung der Ukrainer vom Staat übertragen worden war. Der nationalistische Teil der Przemysler Bevölkerung vermutet in jedem Anspruch der Ukrainer einen Versuch, die Stadt wieder ukrainisch zu machen. Die Ukrainer wehren sich dagegen mit trotzigen Gesten und Anklagen, sie würden als Minderheit diskriminiert. In Wirklichkeit klagen sie aber weniger darüber, was ihnen die Polen antun, als darüber, was Polen gemeinhin so über Ukrainer denken. Eine Lehrerin des ukrainischen Gymnasiums in Przemysl klagt: „Bis vor kurzem mußten wir hier unsere Kinder noch mit polnischen Geschichtsbüchern unterrichten, in denen Ukrainer ausschließlich als Polen mordende Banden, Banditen und Faschisten vorkamen.“ Es tue weh, daß heute kaum jemand sich noch darum bemühe, die Erinnerung daran wachzuhalten, daß Przemysl früher einmal eine Drei-Nationen- Stadt war.

Spuren des keineswegs ausschließlich polnischen Charakters von Przemysl und Versuche, diese zu erhalten, würden von vielen Polen nicht als Bereicherung, sondern als Bedrohung empfunden, bestätigt auch August Fenczak. Er ist Historiker am „Wissenschaftlichen Südostinstitut“ von Przemysl, das sich darum bemüht, die Vergangenheit der Region ohne nationalistische Scheuklappen zu erforschen. „Wenn Sie hier über die Friedhöfe gehen, können Sie sogar noch ungarische Grabinschriften entdecken“, erzählt August Fenczak. In den Räumen des Instituts hängt ein Porträt Franz Josefs, dessen Kronland Galizien bis 1918 war. „Unser Schutzpatron“, lächelt August Fenczak. Die Erinnerung an Österreich ist in Przemysl bis heute noch wach und unumstritten, war die Donaumonarchie doch von allen polnischen und ukrainischen Teilungsmächten die toleranteste. In Westgalizien bot sie der polnischen, in Ostgalizien der ukrainischen Nationalbewegung Raum. Beide wurden jenseits der Grenzen rücksichtslos unterdrückt.

Geblieben sind die Steinkirchen, die kleinen Dörfer, in denen noch manche zerfallene Scheune Zeugnis ablegt von der Vertreibung der Einheimischen im Krieg, die Friedhöfe mit den orthodoxen Doppelkreuzen und die Paläste der polnischen Adligen, die nach dem Krieg in Erholungsheime für die Werktätigen der großen Kombinate in Zentralpolen umgewandelt wurden. Der Palast derer von Krasicki ist ein solcher. Heute gehört der Komplex samt wildwucherndem Park mit riesigen Eichen und Nadelholzgewächsen der Warschauer Autofabrik FSO. In der kargen Wald- und Gebirgslandschaft der östlichen Beskiden ist er einer der wenigen, einigermaßen komfortablen Unterkunftsmöglichkeiten für Touristen und Wanderer. Neben dem Palast eine mächtige römisch-katholische Kirche, einige Läden und einfache Häuser der Dorfbewohner — das ist heute Krasiczyn. Hinter dem Palast verschwindet eine gewundene Landstraße im Wald, der bei minus 20 Grad Frost zu einer weißglitzernden Theaterkulisse erstarrt ist. Von hier aus geht es in zwei Stunden langsamer und vorsichtiger Fahrt über ungeräumte und glatte Strecken durch riesige Nadelwälder, über Serpentinen und Haarnadelkurven vorbei an winzigen Siedlungen aus Holzhütten nach Sanok, einer Kleinstadt direkt am nordwestlichen Ausläufer der Karpaten. Nicht alle Hütten auf dem Weg sind bewohnt. Seit Polens kommunistische Armee 1946 die einheimischen Ukrainer vertrieb, sind nur wenige zurückgekommen — manches Gehöft steht so seit Jahrzehnten leer.

Die Rückkehr der Ukrainer wurde jahrzehntelang administrativ behindert. Manche lebten jahrelang illegal in Häusern, die sie selbst gebaut hatten, die ihnen aber längst nicht mehr gehörten. In den Dörfern der Karpaten, die hinter der Stadt beginnen, stehen vereinzelt auch noch hölzerne Kirchlein, an deren Bauweise deutlich byzantinische Elemente zu erkennen sind. Bis 1946 gehörten sie den Griechisch-Unierten. Nach der Vertreibung der Ukrainer und dem Verbot ihrer Kirche in Ostmitteleuropa wurden sie in Polen der römisch-katholischen, in den angrenzenden Ländern der orthodoxen Kirche übergeben. In Polen streiten sich nun Orthodoxe, Unierte und römische Katholiken um die Kirchlein. Viele der Holzbauten verbrannten allerdings in den siebziger und achtziger Jahren, angezündet von Brandstiftern, die nie ermittelt wurden.

Von Sanok rütteln regelmäßig Busse über die Bergstrecke in Richtung Grenze. Fröhliche polnische und slowakische Zollbeamte wünschen eine gute Reise und verschwinden schnell wieder in ihrer beheizten Bude. Von der Grenzstation auf einem Bergkamm führt eine kurvenreiche schneebedeckte Straße bergab in die Slowakei. Rechterhand stehen noch immer museumsreife Pseudo-Denkmäler aus kommunistischen Zeiten: ein sowjetischer Jäger mit roten Sternen auf den Tragflächen auf einem Steinsockel, ein Flakgeschütz, dessen Kanone seltsamerweise nicht nach Westen, sondern nach Norden in Richtung Polen gerichtet ist, und zwei ineinander verkeilte Panzer auf unterschiedlich hohen Sockeln, die aussehen, als hätten sie ein Duell mit Hörnern statt mit Kanonen ausgetragen. Obenauf ist ein sowjetischer Panzer, der deutsche hat bei der Karambolage den kürzeren gezogen.

Stanislav Durkac, stellvertretender Bürgermeister von Bardejov und zuständig für Auslandskontakte, hat in seinem schmucken Gemeinderatsgebäude in der nicht minder schmucken Altstadt der 32.000-Einwohner-Gemeinde gewartet, obwohl schon lange die Dunkelheit über das Tal hereingebrochen ist. Nun leuchtet der Marktplatz mit den Fachwerkhäuschen und der großen Kathedrale in der Winternacht und steht dabei der Prager Altstadt in nichts nach.

Nein, solche Probleme wie Przemysl habe man hier nicht, wiegelt Durkac ab, es gebe ohnehin nur eine griechisch-katholische, eine orthodoxe und eine evangelische Gemeinde. Die meisten Bardejover Bürger seien römische Katholiken, aber nur die wenigsten gingen überhaupt in die Kirche. Die frühere orthodoxe Kirche habe der Staat nun an die griechisch-katholische Gemeinde zurückgegeben, die Orthodoxen hätten von der Stadt ein Gebäude erhalten und bauten nun ihre eigene. Dafür habe Bardejov Probleme mit den Zigeunern, von denen seit ewigen Zeiten 1.500 vor der Stadt lebten, 65 Familien in Dlha Luka, einem Vorort, „unter absolut unmenschlichen Bedingungen“. Soll heißen in Slums und Hütten aus Kartons, weshalb die Stadt ihnen nun etwas Ordentliches bauen wolle. Bardejov hat einen Ruf zu verlieren: 1986 erhielt die Stadt den Preis zum Schutz des europäischen Kulturerbes.

Ukrainer gebe es in seiner Stadt nicht, erklärt Durkac, Ruthenen nur wenige. Eine Schule mit ruthenischsprachigem Unterricht existiere erst im Nachbarkreis. Im 19. Jahrhundert spaltete sich die ukrainische Nationalbewegung in zwei Richtungen: eine prorussische „ruthenische“ und eine antirussische „ukrainische“. Letztere sahen die Ruthenen der Habsburgermonarchie als Abkömmlinge der Ukrainer im Südwesten des russischen Reiches, die Ruthenen dagegen gelangten zum Schluß, nur ein Stamm des (groß-)russischen Volkes zu sein. Der Streit existiert bis heute in der Ostslowakei, wo es inzwischen über ein halbes Dutzend verschiedene ruthenisch-ukrainische Organisationen gibt. Ukrainer und Ruthenen sind überwiegend griechisch-katholisch, manche Ruthenen indessen auch orthodox.

Die Messe in der griechisch-katholischen Kirche zu Bardejov wird auf Slowakisch gehalten, doch die Anschlagtafel am Eingang verrät, daß sie ab und zu auch in Altkirchenslawisch gelesen wird. Die Kirche ist voll, manche der Gläubigen stehen sogar. Bezirksdekan Pavol Chanath bittet nach der Kirche zum Tee in sein gerade renoviertes Pfarrhaus. Wie in anderen Ländern Ostmitteleuropas wurde auch in der Slowakei die griechisch-katholische Kirche nach dem Krieg verboten und der orthodoxen angegliedert. Die Kirchen wurden nach einer von den kommunistischen Machthabern inszenierten „Vereinigungssynode“ entweder zu Ämtern und Lagerhallen umfunktioniert oder den Orthodoxen übergeben. Während des Prager Frühlings erhielten die griechisch-orthodoxen Gemeinden ihre Kirchen wieder zurück, doch die „Normalisierung“ der siebziger Jahre zwang sie, sie mit den Orthodoxen zu teilen. Seit kurzem sind die griechisch-katholischen Gläubigen von Bardejov wieder unter sich. Ganz ohne Konflikte ging das nicht ab: „Sie haben mir Drohbriefe geschickt, die Türen demoliert und vor dem Pfarrhaus demonstriert“, gibt sich Chanath empört. Wie zufällig zeigt er eine zerrissene Jacke und ein zerfetztes Hemd mit Blutflecken. Sie stammten von einem griechisch- katholischen Beamten, der in einem Dorf krankenhausreif geprügelt worden sei, weil er zur griechisch-katholischen Kirche übergetreten sei.

Ein Nationalitätenkonflikt sei das nicht, meint er: „Unsere Gläubigen sind Ruthenen, Slowaken und manchmal sogar Ungarn. Ich selbst bin Slowake, und wir sind ganz unpolitisch.“ Die Ukrainer und orthodoxen Ruthenen dagegen bezeichnet er als „prokommunistisch und prorussisch“. „Nach 1950 hat man versucht, aus unseren Ruthenen mit Gewalt Ukrainer zu machen. Bis dahin gab es hier fast keine Ruthenen. Dann wurden plötzlich Schulklassen mit ukrainischem Unterricht eingerichtet.“ Heute gebe es in der ganzen Slowakei 17.000 Ruthenen und ebensoviele Ukrainer. „Die Leute haben Angst, daß hier die Ukraine herkommt“, meint er, „ich habe selbst Karten aus der ukrainischen Emigration gesehen, in der die ganze Slowakei zur Ukraine geschlagen wurde.“ Deshalb balanciere die griechisch-katholische Kirche zwischen Orthodoxen und römischen Katholiken: „Die Messen werden auf Slowakisch gehalten, damit die Leute nicht zu den Römisch-Katholischen abwandern, und auf Altkirchenslawisch, damit sie nicht zu den Orthodoxen gehen.“

Daß man sich der slowakisch- ukrainischen Grenze bei Uzgorod nähert, erkennt man meist an der kilometerlangen Schlange westlicher Wagen mit meist deutschen Zollnummern, die auf ihre Verzollung warten. Hinter der Kontrolle wartet ein überdimensionaler Sowjetsoldat mit Maschinenpistole, der auf seinem Sockel stehend herrisch gen Westen blickt. „Die Ukraine — den Befreiern“ behauptet die kyrillische Aufschrift. „Befreit“ wurde die Karpatoukraine erst 1945 von der Roten Armee, zuvor hatte sie erst zur Slowakei, zur Tschechoslowakei und davor im Rahmen des Habsburgerreiches zu Ungarn gehört. Heute ist sie Teil der unabhängigen Ukraine.

Hinter der vom Krieg kaum zerstörten Stadt mit ihrer winkligen Altstadt, in der auf der Straße Russisch, Ukrainisch, Ungarisch, Rumänisch, Polnisch, Slowakisch und in noch einem paar Dutzend anderer Sprachen gesprochen wird, in der es offiziell siebzig verschiedene nationale Minderheiten und achtundzwanzig verschiedene Konfessionen gibt, beginnt der ukrainische Teil der Karpaten. Enge, holprige, schneebedeckte Straßen führen bis hinauf nach Ostgalizien oder in den Süden in die rumänischen Karpaten.

Unsere Reise endet hier. Heftige Schneefälle, Glatteis und Frost von minus 20 Grad sind nicht günstig für eine Karpatenüberquerung in der Ukraine per Bus.