Gottessegen Fehlanzeige

Wer seine Angehörigen nicht mit dem Segen der Kirche unter die Erde bringen will, engagiert weltliche Trauerredner / Sigrid Wötzel ist die erste professionelle Bestattungsrednerin in Cottbus  ■ Von Bascha Mika

Kalt ist der Tod, und den Lebenden ist auch nicht viel wärmer. In der Trauerhalle des Cottbusser Südfriedhofs liegt die Temperatur kaum über Null. Das spart Heizkosten, hält die Blumen schön frisch und vertreibt den letzten Rest Wohlbefinden aus den Knochen der Hinterbliebenen. „Leben ist wie eine lodernde Flamme“, tröstet Trauerrednerin Wötzel die verfrorene Versammlung. Und dann spricht sie von Glück und Leidenschaft, von Arbeit und Abschied, bis plötzlich der Sarg zu ihrer Rechten anfängt zu beben. Irritiert starren die Angehörigen auf die weiße Empore und das kleine Podest, auf dem ihr Großvater aufgebahrt ist. Es knarrt und quietscht und ruckelt ein bißchen, dann ist unter Orgelklängen der Sarg in der Tiefe verschwunden.

Da ist ein Mensch gestorben und soll unter die Erde. Oder ins Feuer oder ins Wasser. Elementares und Existentielles findet in alter Affinität zueinander, aber was passiert vorher? Früher rief man, wenn es an's Sterben ging, den Pfarrer oder Priester herbei. Es stand ja mit dem irdischen auch das ewige Leben auf dem Spiel. „Herr, bewahre mich vor einem schnellen, schlimmen Tod“, beteten die Gläubigen – was man heute kaum glauben kann, da sich jeder einen schönen, schnellen Tod wünscht. Folgerichtig benachrichtigen wir heutzutage zuerst den Arzt und dann den Bestatter. Der kümmert sich um die Beseitigung der Leiche und noch einiges mehr. Er ist es auch, der für die Trauerfeier den Geistlichen ordert oder einen weltlichen Redner beauftragt.

Der Tod heilt alle Erdennot, und ausgestattet mit der Heilsbotschaft von der unsterblichen Seele, legten sich frühere Generationen getrost auf's Sterbebett. Doch seit der freie Seelenfall ins Nichts die Vorstellung dominiert, haben die Kirchen ihr Trostmonopol verloren. Davon lebt Sigrid Wötzel. Sie ist hauptberufliche Trauerrednerin. Die einzige Professionelle in Cottbus und die einzige Frau unter fünf Kollegen.

An diesem Januarmorgen hat sie um halb zehn die erste Feier hinter sich. Eine große Frau mit der richtigen Figur für das dunkle Schneiderkostüm, das sie trägt. Berufskleidung. Der Sarg mit dem Großvater ist im Keller der Halle gelandet, von dort wird er ins Krematorium transportiert. Jetzt bleibt dem Bestattungsunternehmer eine halbe Stunde, um die Halle – die eigentlich eine Friedhofskapelle aus dunklem Backstein ist – für die nächste Beerdigung vorzubereiten. Wieder knarrt und quietscht und ruckelt es auf der Empore, dann kommt aus dem Keller der nächste Sarg hochgefahren. Der Bestatter und eine Gehilfin laufen nach draußen, kommen keuchend mit Armen voller Blumen und Kränzen zurück. Eindeutig mehr als bei der vorherigen Feier.

Rote Nelken sind sehr beliebt, aber auch hellila Plastiklilien zwischen Tannengrün. Ruck, zuck werden die Gebinde um den Sarg arrangiert. Der Teppichboden schluckt die hastigen Schritte, während die Wintersonne gelbrot durch die bleiverglasten Fenster linst und die Halle kalt bleibt wie eine Gruft. Die Kerzen auf beiden Seiten des Sarges brennen, Frau Wötzel und die Organistin stehen bereit, gleich kann die nächste Trauergruppe auf den Korbstühlen Platz nehmen.

Heute rot, morgen tot. Begräbnissitten sind, völkerkundlich und religionsgeschichtlich betrachtet, sehr beständige Riten. Noch im frühen Mittelalter waren die Rituale weltlich geprägt, die Kirche war nur für Sündenvergebung zuständig. Im 13. Jahrhundert kommt der erste entscheidende Wandel: der Tod wird klerikalisiert. Jahrhundertelang haben die Kirchen ihn voll unter Kontrolle. Mit Beginn der Freidenkerbewegung im letzten und den großen Säkularisierungsschüben in diesem Jahrhundert vollzieht sich die zweite Wende. Die Kirchen verlieren ihr Monopol. Kommunale Friedhöfe werden angelegt, 1878 entsteht, trotz geistlichem Zetergeschrei, das erste deutsche Krematorium. Das 19. Jahrhundert ist auch die Geburtsstunde des modernen Beerdigungsunternehmers: hervorgegangen aus den Berufsgruppen Schreiner, Gärtner und Fuhrmann. Die Kirchen müssen sich mit der Konkurrenz auf dem Trauermarkt abfinden. Todesagenten sind neben den Bestattern jetzt auch zunehmend die freien Redner.

Im Mai 1990 sprach Sigrid Wötzel bei der Beisetzung eines Freundes und hatte ihr coming out: Sie sah eine neue Berufsperspektive. Bis zur Wende war sie stramme SED-Frau und Lehrerin im Parteiapparat. Als Endvierzigerin fing sie von vorne an, „aus Selbsterhaltungstrieb“, wie sie sagt. Wenn sie schweigt, guckt die Nase ganz streng, um den Mund hat sich was Unerbittliches festgesetzt. Spuren des alten Lebens. Sie studierte Sozialpädagogik, betreute Sterbenskranke in der Berliner Charité und ließ sich vom Freidenkerverband zur Trauerrednerin ausbilden. Seitdem ist der Ausnahmefall im Leben der Angehörigen für sie beruflich der Regelfall. „Man wird gebraucht und ist wichtig in einem Arbeitsbereich, den sonst kaum jemand berührt.“

Bitter ist der Tod, auch für die, die zurückbleiben. „Sie können Trost bekommen, indem sie sich erinnern“, denkt Sigrid Wötzel, „an das Leben des Toten und wie es ihres bereichert hat. Manchmal ist es auch einfach tröstlich, daß das Leiden aufgehört hat.“ In ihrer Rede für die zweite Trauergruppe an diesem Morgen, die scheu, den Blick auf den Sarg gerichtet, die Halle betreten hat, klingt das dann so: „Und so wollen wir gemeinsam uns seines Lebens erinnern, Mosaiksteinchen gleich manches in Gesprächen im Kreise der Familien der Kinder noch hinzufügen, mit seiner Schwester darüber reden, was es an Einmaligem, Bedeutsamem, Ergreifendem, aber auch Alltäglichem in diesem Leben gab.“ Ob das hilft? Doch da ist etwas in der Stimme der Rednerin – kein professioneller Weichspüler, sondern dieser Ton, den man von Muttern kennt, wenn man heulend mit aufgeschlagenen Knien nach Hause kam.

Man lobt im Tode manchen Mann, der Lob im Leben nie gewann. Da sind sich die weltlichen und kirchlichen KollegInnen einig. „Über die Toten nur Gutes!“ verkündet Pfarrer Pollack aus Cottbus. „Wenn allzusehr im Leben rumgewühlt wird, ist das nicht tröstlich.“ Die Schattenseiten eines Menschen könne man auch anders beschreiben, findet Sigrid Wötzel: „Das Wort Alkoholiker fällt bei mir nicht. Statt dessen sage ich vielleicht: Das Leben mit ihm war nicht leicht. Die Angehörigen wissen genau, was gemeint ist, die anderen Trauergäste geht es nichts an.“

Der zweite Sarg ist im Keller verschwunden; die Trauergruppe verläßt unter Orgeltönen die Halle, wartet stumm, bis die Totengräber mit dem Sargwägelchen angefahren kommen. Dem folgt man langsamen Schritts. Geradeaus und dann links herum und noch einmal rechts. Der eisige Wind, der das dunkel gekleidete Häuflein von vorne trifft, müht sich um die richtige, unangenehme Atmosphäre. Vorbei geht's an Gräbern, auf denen das Christentum ausgespielt hat. Statt Engeln und Heiligen, Kränzen, Kreuzen und anderen Erbaulichkeiten der Sepulkralkunst verwittern hier nur magere Friedenszweige und dürre Buchstaben auf den Steinen.

Sigrid Wötzel begleitet den Zug, halb Zeremonienmeisterin, halb Therapeutin. Sie zeigt, wo es langgeht, nimmt die am Arm, die Stütze brauchen. Das Grab, ein sandiges Loch, ist mit Plastikrasen ausgeschlagen. Die Totengräber lassen den Sarg hinab und dann die Trauernden alleine. Sie warten 50 Meter weiter im Schutz einer Hecke und rauchen, bis sie das Loch zuschaufeln können. Ne, meinen sie, verändert hätte sich bei den Beerdigungen nichts seit der Wende. Nur wäre früher alles ein bißchen schneller gegangen. Maximal eine Dreiviertelstunde gab's von der Friedhofsverwaltung für jedes Ritual, heute gibt's eine ganze.

Mit dem Tod ist's für immer Feierabend. In diesem Sinne trat in der säkularisierten DDR der weltliche Redner häufiger auf als der Pfarrer. Für ganz Cottbus mit seinen 120.000 Bewohnern und rund 120 Sterbefällen im Monat war ein Bestatter und ein Redner zuständig. Ansonsten gab es nicht selten den Parteibonzen, der einem Genossen die letzte Ehre erwies: in der Trauerhalle die rote Fahne hißte, eine flammende Propagandarede hielt und ein auf der Orgel gespieltes Arbeiterkampflied hinterherschickte. „Wüstenprediger“ schimpft der katholische Pfarrer Pollack dieser Konkurrenz hinterher, um dann zu ergänzen: „Wir hingegen verscharren den Toten nicht, wir entsorgen ihn nicht, wir geben ihn in Gottes Hände zurück.“ Der Cottbusser Bestattungsunternehmer Wienert drückt es einfacher aus: „Das Niveau einer weltlichen Bestattung war früher unter Null.“

Des einen Tod ist des anderen Brot. Heute belebt Konkurrenz das Geschäft mit dem Tod, auch in Cottbus. Die billigste Beerdigung ist für das Sterbegeld der Krankenkasse zu haben: für rund 2.000 Mark. Allerdings ist das nur eine Feuerbestattung. Sobald eine Grabstelle dazu kommt, wird es teurer. Bei einer Erdbestattung mit Anzeigen, Blumen und Redner zahlen die Angehörigen mindestens 2.000 Mark drauf.

Am schönsten, findet Sigrid Wötzel, sind die Totenfeiern auf dem Lande. „So einen richtigen Bauern zu beerdigen, ist für mich ein Erlebnis. Das Dorf begibt sich ins Wochenende, und Samstag nachmittag treffen sich alle auf dem Friedhof, weil einer aus der Gemeinde gestorben ist.“ Dann riecht es nach frischer Erde, und man kann sich Zeit lassen.

Sigrid Wötzel braucht 20 Beerdigungen im Monat, um finanziell über die Runden zu kommen. 20mal Verzweiflung und Not. Da helfen keine rationalen Analysen über Leben und Tod, da fängt die richtige Arbeit an. Wötzel versteht sich als „Trauerbegleiterin“: „Es geht darum, daß die Angehörigen mit dem Verlust leben können.“ Sie kommt – im Gegensatz zum Pfarrer – zu ihnen ins Haus, spricht mit ihnen, lernt den Toten kennen, bereitet die Abschiedsrede vor. Jede ist anders, variable Versatzstücke gibt es nicht. Wer sie engagiert, zahlt 172,50 Mark, die Mehrwertsteuer inbegriffen. Der Pfarrer macht's für Gottes Lohn und bittet dann demütig um eine Spende.

Die weltlichen Redner stehen in den neuen Ländern nach wie vor besser im Kurs als die kirchlichen. „Was sollen wir mit diesem ganzen Schmus und Brimborium, den die Kirche veranstaltet?“, fragt ein Angehöriger, „der Pfarrer macht's immer gleich und immer 'nen Gottesdienst draus.“ Auch von den Bestattern bekommt die Geistlichkeit keine himmlischen Noten. „Einen mitfühlenden Pfarrer“, meint Bestatter Wienert, „hab' ich noch nicht erlebt. Weltliche Redner sind einfühlsamer und machen sich mehr Gedanken um die Hinterbliebenen.“

Denn sterben mußt Du, das ist gewiß.