Das Leben, ein Pausenzeichen

■ Christoph Marthalers „Sturm vor Shakespeare“ in der Volksbühne

Eine spießig gekleidete Abendgesellschaft. Einer sitzt auf dem Sofa und diktiert etwas auf ein Tonband. Auf dem Schoß hat er einen Vogelkäfig. Auf der anderen Seite des Raumes sitzt eine Gruppe und liest. Sie befinden sich in einer Hotelhalle mit sozialistischem Charme. Ein Schaufenster ist in die rechte Wand eingelassen. Vor einer Halbgardine und unter einer Blumenampel werden karierte Hausschuhe angeboten: kaufen, reinschlüpfen, wohlfühlen.

An der Rückwand sind Türen, darüber runde Öffnungen, durch die man Schiffsschrauben sieht. Vielleicht also auch ein Schiff. Egal. Sie sitzen auf jeden Fall fest, kommen nicht ins Freie. Immer wieder versucht die Gesellschaft, aufzubrechen; sie wollen eine Reise antreten oder sich schlafenlegen. An der Garderobe sind sie noch guten Mutes, doch die Saaltüre öffnet sich ihnen nicht.

So kehren sie um und vertreiben sich die Zeit. Eine sortiert zerbrochene Porzellansplitter, eine andere klimpert auf dem Klavier, einer baut auf dem Tisch einen Podest aus Büchern und stellt sich drauf und fällt runter, zwei machen Schwimmbewegungen auf dem Boden, ein weiterer rasiert sich die Beine. Dann singen sie wieder. Die Langeweile kanalisiert sich in kunstvollen Chorgesang. Deutsches, Volkstümliches. Oder sie beten vor dem Schaufenster mit den Hausschuhen. Zwischendurch machen sie nichts: Standbilder. Und wiederholen alles, auch ihre wenigen Sätze, und rennen plötzlich wild und durcheinander in die rückwärtigen Zimmer und kommen heraus und fallen um und schlafen ein.

Der auf dem Sofa indessen holt eine Schnur mit einem gläsernen Pendel aus seiner Anzugtasche. Ab und zu hebt er sie hoch und dirigiert das Treiben der anderen damit. Plötzlich fallen Sätze aus Shakespeares „Sturm“. Prospero ist es, der vom venezianischen Politiker auf seiner Exilinsel eine Umschulung zum Zauberer gemacht hat. Und der Diener ist Ariel, sein Luftgeist.

„Sturm vor Shakespeare“ heißt die Adaption von Christoph Marthaler in der Volksbühne. Das Warten, die immer gleichen, höchstens im Tempo variierenden Übersprungshandlungen, die man Leben nennt, die Pausen, die Stille, der Überdruß sind Marthalers Thema. Schon in „Murx den Europäer“ hatte er dies im gleichen Theater wundervoll choreographiert und komponiert.

Warum hat der Schweizer Regisseur den „Sturm“ zur Grundlage seiner Exerzitien gemacht und die Geschichte im Ganzen dennoch verweigert? Vielleicht weil es bei Shakespeare um Macht geht — und um Machtverzicht. Vielleicht, weil die Willkür des Zaubers von Prospero den Betroffenen ähnlich sinnlos erscheint, wie es unser Leben von außen betrachtet ist. Vielleicht, weil ihm einfach das Stück gefällt, diese Inselsituation, in die eine Delegation von Stadtstaatlern im doppelten Sinne einbricht. Und weil er es für einen utopischen Altersschwachsinn hält, das mit dem Verzeihen, dem Machtverzicht und dem Happy-End. Bei Marthaler gibt es kein Happy-End. Prospero zieht sich am Ende zurück und scheißt (buchstäblich und gut hörbar) auf die Welt. Die anderen machen weiter wie bisher. Fluchtchancen gleich null.

Die absurde Ernsthaftigkeit, mit der Marthaler die Variationen seines Themas hier agieren läßt, ist zuweilen sehr komisch. Aber er geht weniger spielerisch vor als bei „Murx ihn“. Es gibt kaum Nuancen, keine Steigerungen. Nur einmal einen geballten Ausbruch in die Aggressivität. Wenn sie aufeinander losgehen, wenn einzelne die Zeitvertreibungen der anderen boshaft stören. Ein Schlag in den Magen, Klavierdeckel auf Finger knallen lassen und so weiter.

Das alles trägt aber keine 150 Minuten. Das Vergnügen an akkurat gespielter Langeweile, an vorsätzlicher Sinnlosigkeit, an den aberwitzigen und doch beeindruckenden musikalischen Vorträgen verliert sich rasch. Spannende, weil unentschiedene Momente sind rar, sehr schnell weiß man, daß alles so weiterläuft, wie es einmal begonnen hat. Das ist sicher alles sehr wahr. Und reichlich mühselig zu betrachten. Petra Kohse

„Sturm vor Shakespeare“. Regie: Christoph Marthaler. Bühne: Anna Viebrock. Mit: Josef Bierbichler, Robert Hunger-Bühler, Claudia Michelsen u.a. Nächste Vorstellungen: 2., 10. und 21.2., 19.30 Uhr, Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz, Mitte.