Die Rhythmen des Enkels

Kubas schrecklicher Opa, die Guarachas und eine Hoffnung. Notizen anläßlich Pedro Luis Ferrers Konzert im Haus der Kulturen der Welt  ■ Von Jesús Diaz

Zum Tode des kubanischen Schriftstellers Severo Sarduy schrieb der spanische Schriftsteller Juan Goytisolo vor kurzem, daß die kubanischen Romane in der spanischsprachigen Literatur einzigartig sind. Als Beleg dafür führte er Namen wie Lezama Lima, Alejo Carpentier, Cabrera Infante und Sarduy selbst an. Bei all ihren Unterschieden gibt es eine Dimension, die sie verbindet: die Musikalität ihrer Sprache, der musikalische Gehalt ihrer so verschiedenen Werke. Dies erlaubt mir die These, daß das Herz der kubanischen Kultur die Musik ist.

Um genauer zu sein: Die música popular, die populäre, „volkstümliche“ Musik Kubas mit ihrem eindrucksvollen Reichtum an Formen und Gattungen: Der Son, der Danzón, die Guajira, die Guaracha, der Cha-Cha-Cha, der Bolero, der Mambo, die Rumba, die alle offen genug sind, um sich miteinander zu vermischen (zum Bolero-Cha, zum Guajira-Son), und die auch mit den Formen anderer Kulturen verwachsen (der Latin Jazz etwa), so daß das Ganze die Unerschöpflichkeit, die Überraschungskraft und die Schönheit eines unendlichen Gartens gewinnt.

Damit ist die kubanische Popular-Musik neben der nordamerikanischen und der brasilianischen der vielleicht komplexeste, reichste und mächtigste Ausdruck, den die Menschheit in diesem Jahrhundert gefunden hat, um sich selbst zu feiern. Ihre Kraft basiert darauf, daß sie sich aus drei großen, koexistierenden Quellen speist: zum einen der sakralen Musik afrikanischen Urspungs; dann die diversen Spielarten der Folklore, die sich auf der Insel niedergelassen haben oder dort entstanden sind; und drittens die Ebene des Volkstümlichen selbst, die aus den beiden ersten schöpft, aber im Unterschied zu diesen in ständiger Weiterentwicklung begriffen ist. Sie nährt sich immer neu aus ihrer eigenen Geschichte und aus dem Kontakt mit der restlichen Welt, so daß jede kommende Generation von der vorangehenden das Mandat übertragen bekommt, sie in die Zukunft fortzutragen.

Der kubanische Komponist und Sänger Pedro Luis Ferrer hat mit seinem unvergeßlichen Konzert im Haus der Kulturen der Welt am Samstag abend dieses Mandat vollendet ausgefüllt. Seine Vorfahren kamen aus Spanien, er stammt aus der einfachen Welt der kubanischen Bauern, der Campesinos. Aus Willen und aus Berufung ist er gleichermaßen dem musikalischen Erbe verbunden, das Kuba aus Afrika vermacht bekam, wie den Experimenten der musikalischen Avantgarde aus anderen Breitengraden. Wie vielleicht kein anderer bringt Pedro Luis Ferrer alle Wurzeln, Kräfte, Hoffnungen und Ängste unserer Gegenwart zusammen, und auch die unserer Zukunftsentwürfe.

Daher auch der Humor in so vielen seiner Kompositionen; ein bitterer Humor zuweilen, so wenn er in dem Lied „Hundertprozentig kubanisch“ ironisch von der schrecklichen Wirklichkeit singt, die uns Kubaner in unserem eigenen Land zu Bürgern zweiter Klasse macht. Daher auch die unausgesprochene Bedeutung seines „Opa Paco“, einem Lied, das er seinem Großvater gewidmet hat, einem senilen Alten, der ein großes Haus erbaute und sich am Ende in eine schreckliche Gefahr für die ganze Familie verwandelt hat. Wenn Pedro Luis Ferrer am Schluß singt: „Auch wenn du nein meinst/ sag ja/ wenn du ihm widersprichst/ um so schlimmer für dich“, dann denkt das Publikum in der Logik der Metapher an jenen schrecklichen Opa, in den sich auf Kuba Fidel Castro verwandelt hat.

So faszinierend seine Texte sind, so reich ist auch die sprachliche Experimentierkunst in seinen Liedern und Gedichten, etwa wenn er in seiner Hommage an Violeta Parra mit den schwierigen Esdrújulas spielt (ausschließlich Worten, bei denen die Betonung auf der ersten Silbe liegt) oder mit Worten, die immerzu unvollständig bleiben wie in seinem „Mario Angue“, jenem Meisterwerk der Kunst des Suggerierens. Jenseits der Texte und der Sprache aber gibt es in dem Werk von Pedro Luis Ferrer auch eine überwältigende ethische Dimension. Er trägt uns damit in die Zukunft, um dort seinen so sehr humanen Anruf für das Verstehen und die Toleranz zu verankern.

Auch wer kein Spanisch versteht, kann den Reichtum seines Könnens genießen, die breite Palette seiner Rhythmen, die sich mit einer im reichhaltigsten Sinne menschlichen Stimme verbinden, um jene Art von Wunder zu vollbringen, das nur den Großen vorbehalten ist: die Ketten des Turmbaus zu Babel zu sprengen und jenseits aller Sprachen in das Zentrum der Herzen der Leute zu gelangen.

Weitere Termine mit Pedro Luis Ferrer in Berlin: 5.2. Diskussion über die Spaltungen in der kubanischen Gesellschaft heute; Haus der Kulturen der Welt, 17 Uhr (mit Orlando Lübbert), 10.2. Konzert mit Band „Color Latino“, Quasimodo, 22 Uhr, Kantstraße 12 a, Charlottenburg.

Ein Interview und Liedertexte von Pedro Luis Ferrer sind in der neuesten Ausgabe der „Lateinamerika Nachrichten“ (Nr. 236) erschienen (Bezug: LN, im Mehringhof, Gneisenaustraße 2, 10961 Berlin)

Der Autor ist kubanischer Schriftsteller („Die Initialen der Erde“, „Die Verlorenen Worte“) und lebt in Berlin. Übersetzung: Bert Hoffmann