Namenlos und stumm?

■ Betr.: „Staatsanwälte glauben nicht mehr an einen Nazi-Über fall“ (Rollstuhlfahrerin wird mor gen vernommen), taz vom 17.1.94 u.ä.

[...] Im Zusammenhang mit behinderten Opfern oder Täterinnen fällt mir eine Besonderheit auf, eine spezielle Form von Diskriminierung, wie sie in dieser Art nur gegenüber Frauen und Behinderten angewandt wird: Die Leute haben keine Namen!

Das ist einfach nur „die Rollstuhlfahrerin“, „die Taubstumme“ usw. Auch werden Behinderte – oft auch Frauen ohne Behinderung – niemals wörtlich zitiert, sie werden präsentiert, als wären sie stumm, auch wenn sie es nicht sind. (Die Frau aus Halle ist nicht stumm, soll aber mundtot gemacht werden.)

Das mag als Lappalie erscheinen, hat aber tiefgreifende Folgen im Bewußtsein der Leserschaft: Menschen ohne Namen werden nicht ernst genommen. Wer keinen Namen und keine Stimme hat, tritt nicht als individuelle Persönlichkeit in Erscheinung, existiert praktisch nicht. Von diesem Verweigern des Status als eigene Persönlichkeit bis zur realen Vernichtung des Lebens ist kein großer Schritt. (Den KZ-Insassen wurde auch ihr Name geraubt, den Leuten wurden Nummern eintätowiert, und sie werden nur noch mit ihrer Nummer angesprochen. Was auch dazu beigetragen haben mag, ihre Tötung moralisch vorzubereiten – es wurden ja nur „Nummern“ ausgelöscht...)

Werden Behinderte selbst gewalttätig, kommt als Motiv nur Geltungssucht in Betracht. Sie haben ja keinen Grund, berechtigte Wut und Haß zu entwickeln, wegen ihrer Ausgrenzung in vielen gesellschaftlichen Bereichen, beruflich und privat. Oder diese Wut wird eben als „Geltungssucht“ deklariert, damit sie nicht ernst genommen werden muß.

Eine Rolle spielt auch, daß Behinderten keine Aggressionen zugestanden werden – die sollen immer nur lieb und brav sein, bestenfalls lustig – wie Kinder. (Die Rolle des Clowns wird ihnen gerade noch zugestanden. Und wehe, sie wollen die nicht. Den Anspruch, ernst genommen zu werden, dürfen sie nicht stellen.)

Daß aber gerade das Unterdrücken aller aggressiven Impulse zwangsläufig zu einem Aggressionsstau führen muß (der irrationales Verhalten bis hin zu völlig unsinnigen Gewalttaten auslösen kann), ist in der Psychologie kein Geheimnis und sollte auch Journalisten bekannt sein. Warum sollte das bei „Behinderten“ soviel anders sein?

Vielleicht wurde die taubstumme Frau auch behandelt wie eine geistig Behinderte, obwohl sie es nicht ist (das geschieht Sprechbehinderten oft). Bis sie durchgedreht ist. Ständig unterschätzt zu werden, macht aggressiv. „Behinderte“ reagieren emotional nicht grundsätzlich anders als andere Leute auch. Sie sind keine unterentwickelte Form des Menschen, sondern lediglich Menschen mit einer gesundheitlichen Einschränkung. Sie können in Geist und Seele genauso lebendig sein wie Körpergesunde auch. Doch eben das scheint die Gesellschaft heftigst zu erschrecken. Renate Richter, Berlin