Risiken bei der genetischen Beratung

Ein höchstrichterliches Urteil / Bundesgericht verurteilt Arzt zur Zahlung von Schadensersatz für behindertes Kind / Angeblich habe er den Eltern eine falsche Auskunft gegeben  ■ Von Ernst Peter Fischer

Früher haben die Menschen dafür gebetet, daß ihre Kinder gesund zur Welt kommen, und wenn sich dann doch ein behindertes Kind einstellte, beklagte man sich bei Gott oder haderte mit seinem Schicksal. Heute haben viele Menschen nicht nur eine andere Einstellung, sie haben auch andere Möglichkeiten. Sie gehen zur genetischen Beratung, und hier erwarten sie sichere Auskunft darüber, ob ihr werdender Nachwuchs Erbschäden aufweist, oder sie möchten wissen, ob ihr noch zu zeugender Nachwuchs genetischen Risiken ausgesetzt ist oder sich so normal wie möglich entwickeln wird. Und wenn dann das Kind da ist und doch Behinderungen körperlicher oder geistiger Art aufweist, zieht man vor Gericht, um den Arzt zu verklagen, der doch versprochen hatte, daß ein gesunder Knabe beziehungsweise ein gesundes Mädchen in der Wiege liegen wird. Die Möglichkeit, daß damit das Dasein eines neugeborenen Kindes als ein Schaden, als ein wrongful life, wie es die Amerikaner nennen, verstanden wird, weisen die Beteiligten mit dem Hinweis zurück, daß im zivilrechtlichen Schadensbegriff kein Negativurteil liege und man sich nur um eine Verteilung der Lasten bemühe, die es durch die Behinderung gäbe. Und die Zubilligung von Schadensersatz habe für das betroffene Kind doch keine negativen Folgen, sondern sei – im Gegenteil – von hohem Nutzen für ihn.

Was zunächst nur eine übliche Rechtspraxis in den USA war, bei der betroffene Eltern den Arzt, der sie genetisch falsch beraten hatte, auch wegen einer wrongful birth verklagten, wenn irgendwelche diagnostischen Maßnahmen unterlassen wurden, hat längst auch in Deutschland die Gerichte erreicht und in diesen Tagen sogar alle Instanzen bis zum Ende, das heißt, bis zum Bundesgerichtshof in Karlsruhe durchlaufen – und zwar mit einem skandalösen Abschluß.

Mitte November wurde von höchstrichterlicher Stelle ein Arzt am Tübinger Institut für Humangenetik verurteilt, Eltern Schadensersatz zu zahlen, die nach seiner angeblichen fehlerhaften Beratung ein schwerstbehindertes Kind zu Welt gebracht hatten (Aktenzeichen VI ZR 105/92).

Der Ausgangspunkt des Falles, der nun vom VI. Zivilsenat in Karlsruhe entschieden worden ist, liegt rund zehn Jahre zurück. Im August 1983 hat sich ein Ehepaar, dessen erstes Kind eine schwerstbehinderte Tochter war, in Tübingen in der Frage beraten lassen, welches Risiko besteht, daß auch ein zweites Kind von diesem Schicksal betroffen und mit einer Behinderung geboren werden könnte. Der sie beratende Arzt stand in diesem Fall vor einem ungewöhnlichen Problem, und zwar deshalb, weil er ein unklares Syndrom vor sich hatte, das niemandem bekannt und das nirgendwo in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben war. Nach dem damaligen Stand der Kenntnis kam der beratende Arzt zu dem Schluß, daß die Krankheit des ersten Kindes zwar angeboren, aber nicht genetisch bedingt sei. Das heißt, bei dem betroffenen ersten Kind läge wahrscheinlich kein in den Genen steckender und damit vererbbarer Schaden vor. Es müßten vielmehr Beeinträchtigungen durch den Vorgang der Geburt selbst gewesen sein, die den Schaden bewirkt haben. Eine weitere Schwangerschaft sei damit aller Voraussicht nach so risikolos wie jede normale Schwangerschaft – soweit es die genetischen Gegebenheiten angehe.

Als am 6. März 1985 die zweite Tochter des Ehepaares geboren wurde, wies sie allerdings ähnliche Defekte auf, und für die schwere Behinderung konnten oder mußten nun offenbar doch genetische Ursachen angenommen werden.

Der Arzt hat sich offenbar bei seiner Empfehlung geirrt, als er den Eltern nicht davon abriet, ein weiteres Kind zu zeugen. Aber war seine Beratung deshalb auch fehlerhaft?

Da zum Zeitpunkt der Beratung nicht nur dem jetzt verurteilten Arzt, sondern der gesamten genetischen Wissenschaft unbekannt war, ob es sich bei der Krankheit um einen genetischen Defekt handelt, konnte nicht ausgeschlossen werden, daß die erste Tochter aufgrund einer neu aufgetretenen Variation (Mutation) in den Genen zu leiden hatte, die sich schon durch ein verändertes Exemplar allein bemerkbar macht und daher dominant heißt. Die Wahrscheinlichkeit, daß es zu einer dominanten Neumutation kommt, geben die Lehrbücher der Humangenetiker mit 1,2 Prozent an, und so hätte die korrekte Auskunft des beratenden Arztes in Tübingen lauten müssen: Das Risiko einer zweiten behinderten Tochter wäre äußerst gering, wenn bei der ersten Tochter nur ein Kunstfehler bei der Geburt selbst passiert wäre, das Risiko läge noch ein bis zwei Prozent höher für den Fall einer dominanten Neumutation, und das Risiko läge bei 25 Prozent im Falle einer rezessiven Erbkrankheit, das heißt, wenn von beiden Eltern ein verändertes Gen weitergegeben werden muß, damit es zur Ausbildung der Krankheit kommt.

Das Problem ist nun, daß der jetzt verurteilte Arzt genau diese Auskunft gegeben hat, wie dem Beratungsbrief zu entnehmen ist, der zu dieser wie zu jeder anderen Konsultation gehört und sie zusammenfassend abschließt. Verklagt worden ist er deshalb, weil er sich den Eltern nicht völlig verständlich gemacht und ihnen zum Beispiel nicht ausdrücklich gesagt hat, daß sich in den Chromosomen des Vaters eine sogenannte Normvariante nachweisen läßt. Eine solche Normvariante meint ein unsichtbares Erscheinungsbild des Erbmaterials im Lichtmikroskop, das zwar von dem üblichen Aussehen abweicht, aber keinerlei Krankheitswert hat und äußerlich unauffällig bleibt. Die genetische Analyse hat zwar gezeigt, daß die zweite behinderte Tochter diese Normvariante vom Vater geerbt hat, aber bei der ersten Tochter findet sie sich nicht, und alle wissenschaftlichen Erfahrungen sprechen dafür, daß dieser Teil der Gene nichts mit der Behinderung der Kinder zu tun hat. Der Arzt hat mit Sicherheit keinen wissenschaftlichen Fehler gemacht. Trotzdem ist er verurteilt worden, und hier steckt der eigentliche Skandal. Die Richter haben offenbar gar nicht verstanden, was ein „genetisches Risiko“ ist, und den Arzt nur allein deswegen verurteilt, weil ein behindertes Kind in der Welt ist und jemand seinen Unterhalt zahlen muß. Die Verurteilung des Arztes hängt nicht von seiner Beratung, sondern allein vom Ausgang der Schwangerschaft ab.

Mit seiner Entscheidung nun hat der VI. Zivilsenat allen genetischen Beratern die perfekte Falle gebaut. Nach dem getroffenen Urteil werden sie nämlich schuldig, wenn ein behindertes Kind zur Welt kommt – selbst wenn sie auf alle Risiken hingewiesen haben und selbst wenn die substantiell sind und weit über 50 Prozent liegen.

Garantiert unschuldig bleiben vor dem Gesetz kann der Berater nur noch dann, wenn er allen Eltern abrät, ein Kind zu bekommen, und damit schnappt die Falle zu. Denn nun macht sich der Berater doppelt schuldig – einmal vor dem Gesetz, das ihm eine direkte Beratung untersagt, und zum anderen vor den Eltern, die nun gar keine Beratung mehr bekommen, die diesen Namen verdient.

Der Bundesgerichtshof hat pikanterweise in der erwähnten Presseerklärung darauf hingewiesen, daß seine Beurteilung der Lage auch gilt, wenn eine Frau zur Beratung kommt, die bereits schwanger ist. In diesem Fall bietet man dem genetischen Berater immerhin die Alternative an, sich strafrechtlich verurteilen zu lassen. Nach dem Willen der Karlsruher Richter wird ein Berater – wie beschrieben – zivilrechtlich schuldig, wenn die Frau ein behindertes Kind zur Welt bringt. Er kann dieser Gefahr nur dann sicher entgehen, wenn er der Frau zur Abtreibung rät, und in dem Augenblick verletzt er eine Vorschrift des Strafrechts.

Der eigentliche Skandal liegt aber auf einer anderen Ebene. In dem Urteil aus Karlsruhe heißt es an einer Stelle, „der haftungsrechtliche Schutz“ – also die Verurteilung des Arztes – „ist letztlich eine Auswirkung des medizinischen Fortschritts“.

Damit wollen die Richter sagen, daß uns die Fortschritte der genetischen Diagnose ihrer Ansicht nach doch inzwischen in die Lage versetzen, Geburten von behinderten Kindern zu vermeiden, und wenn es trotzdem dazu kommt, muß man der Wissenschaft den Schaden anlasten. Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs tritt damit nicht nur die Würde des Menschen mit Füßen – er stuft das Leben der betroffenen Kinder bedenkenlos als wrongful life ein –, er degradiert auch die Wissenschaft zur Hure, der man sich bedient, solange es Spaß macht, und die man verurteilt, wenn es damit ein Ende hat und etwas passiert ist.