Gerechtigkeitsfixiert

Das SPD-Wirtschaftsprogramm wird der Krise nicht gerecht / Arbeitsplätze müssen erkämpft werden  ■ Von Holger Bonus

Parteien brauchen Identität. Sie müssen sich selbst gleich bleiben, um in den Augen ihrer Anhänger ein verläßlicher Partner zu sein, und von einer Vision getragen sein, die sich dem potentiellen Wähler mitteilt. Identität kann man nicht machen; sie wächst heran und ist das Resultat von Geschichte.

Die SPD hat eine sehr starke Identität, in der sich ihre Geschichte ausprägt. Im vorigen Jahrhundert war sie die Partei der verelendeten Arbeiter. Sie erlebte, daß ganz oben Leute mit unermeßlichem Einkommen und Vermögen saßen, absolute Herrscher in ihren Imperien, die den kleinen Mann erbarmungslos ausbeuteten und gegen die er wehrlos war. Sie nahm sich vor, das zu ändern. Das ist geschehen – aber die Vision der Partei ist die alte geblieben und paßt nicht mehr so recht zu den Fakten. Noch immer glaubt sie an unermeßliche Vermögen, und noch immer scheffeln die „Besserverdienenden“ das Geld. Da kann man holen, was man braucht, und zwar in jeder Menge. Gerechtigkeit rangiert ganz oben auf der Werteskala. Die Schwächeren müssen vor den Stärkeren beschützt werden. Die Stärkeren sind nicht interessant und im Grunde ein Skandalon. Daß gerade sie Dynamik in die Wirtschaft bringen könnten, kommt in der Vision nicht vor.

Bislang gefährlichste Krise

Die schwere Wirtschaftskrise, in die wir nach dem Fall der Mauer hineingeraten sind, ist anders und weit gefährlicher als alles, was wir bisher in der Bundesrepublik erlebten. In Osteuropa verdienen Arbeitnehmer mit vergleichbarer Qualifikation nur acht Prozent ihrer westeuropäischen Kollegen, während ihre Produktivität bei 60 bis 75 Prozent der hiesigen liegt. Energie kostet dort ungefähr halb soviel wie bei uns. Früher war das eine ferne, abgeschottete Welt, die uns ökonomisch nicht berührte, aber heute liegt diese Welt gleich nebenan. Warum sollte jemand in den neuen Bundesländern investieren, wenn es ein paar Kilometer entfernt weit billiger ist?

Ein indischer Arbeitnehmer verdient nur drei Prozent von dem, was wir bekommen. Aber dank der neuen Computer- und Kommunikationstechnologien kann seine Produktivität verhältnismäßig rasch um ein Vielfaches gesteigert werden; und auf Zukunftsmärkten tritt er mit unseren Arbeitnehmern in direkte Konkurrenz. So sind die Inder hervorragend im Erstellen von Computersoftware. Südostasien ist plötzlich vor der Haustür.

Die Wirtschaft antwortet mit einer Tendenz zur „virtuellen Organisation“ ohne festen Sitz, die sich blitzschnell anpassen kann und jeder Überregulierung ausweicht. So befindet sich die Redaktion des renommierten Journal of Finance in den USA, der Verlag sitzt in Holland, gedruckt wird in Indien und ausgeliefert durch die Schweiz. Diese Standorte könnten jederzeit und mühelos durch andere ersetzt werden. Die Gefahr ist groß, daß wir als Wirtschaftsstandort einfach abgewählt werden. Die chemische Industrie ist längst dabei, ihre Zelte bei uns abzubrechen.

Die SPD hat recht: Löhne sind nicht alles. Die chemische Industrie geht nicht zuletzt in die USA, wo die Löhne happig sind. Die BASF baut dort ein Zentrum für biomedizinische Forschung, Hoechst ein Labor für molekulare Neurobiologie, Bayer ein Pharmaforschungszentrum, und Schering übernahm ein kalifornisches Gentechnikunternehmen. Die Zukunftstechnologien und mit ihnen Millionen attraktiver und ausbaufähiger Arbeitsplätze fliehen aus Deutschland. Warum eigentlich? Das muß eine politische Partei beantworten, wenn sie der Massenarbeitslosigkeit wirklich an den Kragen will. Sie muß erst hinsehen, bevor sie Pläne schmiedet.

Wir haben die Zukunftstechnologien aus unserem Land förmlich herausgedrängt. Kernenergie ist unheimlich; der Tschernobyl- Schock sitzt uns allen im Nacken. Aber eine Zukunftstechnologie ist sie allemal. Forschung, Entwicklung und Arbeitsplätze haben wir anderen überlassen; aber die Gefahr, die lauert unverändert an der Grenze zu Frankreich.

Gentechnologie war uns zu gefährlich – jetzt wird sie anderswo entwickelt. Und die chemische Industrie wird zum Prügelknaben der Nation stilisiert. Warum sollte sie eigentlich im Lande bleiben?

Die Antwort der SPD auf die Wirtschaftskrise ist, daß Solidarität und soziale Gerechtigkeit das Gebot der Stunde sind. Die Erwerbsarbeit soll gerechter verteilt und die Wirtschaft angekurbelt werden. Hohe Privateinkommen und große Vermögen sind stärker zu besteuern. Beamte und Selbständige werden in die Finanzierung einer „aktiven Arbeitsmarktpolitik“ einbezogen. Ein sozialer Lastenausgleich von oben nach unten soll für mehr Gerechtigkeit sorgen und zur Konsolidierung des Staatshaushaltes beitragen. Die Arbeitszeit ist zu verkürzen, und an die Stelle von Überstunden sollen Neueinstellungen treten. Die Mitbestimmung soll auf die Gestaltung der Produkte ausgeweitet werden. Eine gesetzliche Garantie für die bezahlte Freistellung von Arbeitnehmern für Weiterbildung ist vorgesehen. Gesetzliche Rahmenbedingungen für Frauenförderung in der privaten Wirtschaft sind angesagt.

Der Leser reibt sich die Augen. Die Wirtschaft soll also noch stärker gegängelt werden als schon jetzt. Was geschieht aber, wenn das den Exodus zukunftsträchtiger Wirtschaftszweige noch weiter beschleunigt? Dann haben wir noch weniger Arbeitsplätze. Dieses Programm ist beseelt von der Vorstellung, daß Arbeitsplätze eben vorhanden sind und umverteilt werden können wie Ackerland. Daß sie aber im internationalen Wettbewerb immer neu erkämpft werden müssen, will der SPD nicht in den Kopf. Für sie ist die Wirtschaft wie eine Maschine, die man „ankurbeln“ kann.

In Wirklichkeit besteht die Wirtschaft aus lebendigen Menschen, die motiviert sein wollen. Wer ständig an die großen Vermögen heranwill, darf sich nicht wundern, wenn Kapitalflucht einsetzt. Und wer hohe Privateinkommen noch stärker besteuern will, als das heute schon der Fall ist (verglichen etwa mit den USA und der Schweiz), der muß hinnehmen, daß junge und fähige Köpfe woanders hingehen. Und wenn Selbständige – die doch ihre Altersversorgung aus eigener Anstrengung finanzieren müssen und jederzeit in Konkurs gehen können – zusätzlich mit einer Arbeitsmarktabgabe bedacht werden, dann ist das nicht sozial, sondern eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Wer innovativ und dynamisch ist, wird unter solchen Umständen sein Unternehmen ins Ausland verlegen oder es gleich dort gründen.

Professor Bonus gehört der Chemie-Enquetekommission des Bundestages an. Er lehrt Umweltökonomie an der Uni Münster.