Oberschlesien von unten

Die Basis der polnisch-tschechisch-deutschen Kooperation in Schlesien ist die Ökonomie. Doch aus der Euroregion könnte eine Autonome Region werden  ■ Von Klaus Bachmann

In der hereinbrechenden Dunkelheit sieht die Raststätte aus wie eine Mischung aus byzantinischem Schlößchen und Edelbordell: Türmchen mit Zinnen, schmiedeeiserne Zäune, spitze Dächer, alles beleuchtet von einem Kranz bunter Glühbirnen. Die Zimmer, erreichbar nur über ein kompliziertes Gängesystem, sind ungeheizt und mehr als spartanisch, im Speisesaal herrscht schummriges Dämmerlicht, hervorgerufen von abgedunkelten roten Lampen. Für den einzigen Gast läuft ein tschechischer Spielfilm mit verwackelten Bildern. „Polnisches Bier haben wir nicht“, verkündet der Kellner, „nur tschechisches.“

Dazu paßt, daß jeder zweite Wagen auf der Straße ein tschechisches Nummernschild hat und jeder zweite Sender im Autoradio tschechisch dudelt. Auf den Märkten der umliegenden Dörfer bieten tschechische Kleinhändler ihre Waren feil. Doch wir befinden uns in Polen, etwa 50 Kilometer nördlich der Grenze, am Ortsende von Gliwice. Die Zeiten, als ČSSR und polnische Volksrepublik offiziell Freundschaft dekretierten, gleichzeitig aber ihre Grenzen abriegelten, sind offenbar vorbei. Seit die Grenzen offen sind, wird gekauft und verkauft, was das Zeug hält. Obwohl ein Gutteil des Handels auf die Aktivitäten von Rucksackschmugglern zurückgeht, wird er von den Gemeinden gern gesehen: Standgebühren auf den Märkten füllen das Stadtsäckel.

Die Menschen in Katowice, Kusyce und Ostrava haben so inzwischen ihr eigenes „Višegrad“ auf die Beine gestellt. Und im Unterschied zu den politischen Absichtserklärungen, über die das im ungarischen Višegrad geschlossene ostmitteleuropäische Bündnis zwischen der Tschechischen Republik, Ungarn, Polen und der Slowakei bisher kaum hinausgekommen ist, steht ihre Zusammenarbeit auf solider Basis: Sie haben gemeinsame Interessen.

„Wir verstehen uns als Lobby für Oberschlesien“, erklärt Ferdynand Morski, Sekretär des „oberschlesisch-nordmährischen Regionalverbandes“, in seinem modern eingerichteten Büro mit Telefonzentrale und Telefax im zweiten Stock einer weißgetünchten Villa am Rand der Kattowitzer Innenstadt. „Als Erfolg können wir verbuchen, daß wir nicht mehr nach Warschau fahren müssen, wenn wir ins Ausland fliegen wollen. Seit einiger Zeit hat Katowice einen eigenen internationalen Flughafen mit Direktanschluß nach Frankfurt.“ Inzwischen arbeiten die Handelskammern von Ostrava und Katowice zusammen und veranstalten regelmäßig Symposien, in denen Experten die jeweils andere Seite über Veränderungen in der Wirtschaftsgesetzgebung auf dem laufenden halten. Geplant ist die Bildung einer gemeinsamen Bank zur besseren Abrechnung zwischen polnischen und tschechischen Betrieben. Gemeinsame Feste und Kulturveranstaltungen gibt es ebenso.

Von einer „Euroregion“ will Morski jedoch nicht sprechen: „Der Begriff wird gelegentlich etwas mißbraucht, nur um aus der Europäischen Union Geld herauszuholen. Außerdem soll an einer Euroregion mindestens ein Vollmitglied der EG beteiligt sein.“

Auf der anderen Seite der Grenze repräsentiert Vit Ruprich den Regionalverband. Für ihn sind es vor allem die Politiker, die die mitteleuropäische Kooperation behindern. Premier Václav Klaus messe der Zusammenarbeit mit den anderen Višegrad-Mitgliedern keine besondere Bedeutung zu, für ihn habe die tschechische Mitgliedschaft bei der EU Vorrang. Deshalb gehen die Mittel für die Erweiterung der Zahl der Grenzübergänge in die Infrastruktur der deutsch-tschechischen Grenze. „Aber das ist in Polen ja auch so“, zuckt Ruprich mit den Schultern, „im Westen ist einfach mehr los.“

Doch im Vergleich zu anderen Euroregionen hat Oberschlesien mehr wirtschaftliches Potential und auch durchlässigere Grenzen zu bieten: Auf dem Gebiet des Regionalverbandes existieren elf Grenzübergänge, davon sechs internationale. Im Rahmen des kleinen Grenzverkehrs können die Bürger der Grenzanliegergemeinden mit einer einfachen Behördenbescheinigung ins Nachbardorf. Wartezeiten an den Grenzen sind selten. Im tschechischen Teschen existiert einer der modernsten Übergänge Ostmitteleuropas: Wo sich früher der Verkehr in der gesamten Innenstadt staute, steht heute ein mehrspuriges Terminal, ausgestattet mit Meßgeräten zur Qualitätsüberprüfung der für den Handel bestimmten Lebensmittel.

Teschen allerdings gehört nicht zum Regionalverband, was Morski mit historischen Empfindlichkeiten erklärt: „der Teschener Komplex“. Nach dem Ersten Weltkrieg schuf die Tschechoslowakei Fakten und eignete sich das ethnisch gemischte Gebiet an; 1938, nach der „Zerschlagung“ des südlichen Nachbarstaates, besetzten es polnische Truppen, gewissermaßen in Hitlers Fußstapfen. Nach dem Krieg kam ein Teil zu Polen, ein Teil zur ČSSR. Bis heute lebt im tschechischen Teil eine starke polnische Minderheit. Über die Bewertung dieser Geschichte geraten sich Tschechen und Polen aber bis heute in die Haare.

Ein anderes Grenz-Problem ist die Verschmutzung der Luft durch die Schwerindustrie. „Mal kriegen wir die dreckige Luft von denen, mal die sie von uns, je nachdem wie der Wind weht.“ Anders als Morski residiert Ruprich in einem bescheidenen Büro im Magistrat von Ostrava, umgeben von Landkarten und bunten Hochglanzprospekten über Wirtschaftskraft und Erholungswert der Region. „Über eine Entwicklungsagentur ist es uns gelungen, in Brüssel zwei Millionen Ecu für die Umstrukturierung unserer Wirtschaft lockerzumachen“, erzählt er.

Auch Ostrava hat inzwischen einen internationalen Flughafen mit Verbindungen nach Wien und Nürnberg. Ostlinien gibt es keine, weshalb mancher tschechische Unternehmer über die Grenze nach Katowice und Warschau fährt, um zu seinem Joint-venture in Kiew zu kommen. Kurioserweise kommen sich über Polen nun sogar Tschechische und Slowakische Republik wieder näher. Mitte Oktober schloß der Regionalverband des slowakischen Kreises Kusyce östlich von Teschen ein Kooperationsabkommen mit dem mährisch-schlesischen Regionalverband.

Die Bürger diesseits und jenseits der Grenze brauchen keine formelle Euroregion, um „zueinanderzufinden“. Die Kellner in der blitzenden Rathauskneipe von Ostrava sprechen wie selbstverständlich polnisch. Kein Wunder, jeder zweite Gast ist ein polnischer Geschäftsmann, der zu Verhandlungen ins Rathaus gekommen ist. Selbst die Garderobendame ist mehrsprachig: Im ostpolnischen Przemysl geboren, ist sie über Danzig und Gliwice irgendwann nach Ostrava verschlagen worden.

Der kleine Grenzübergang zwischen Ostrava und Chalupki ist ein Nadelöhr, doch Wartezeiten scheint es nicht zu geben. Nur einige Lastwagen quälen sich langsam über die Stahlträgerbrücke. 17 Kilometer hinter der Grenze liegt Raciborz. In einer zum Büro umgebauten Wohnung am Rande der Altstadt erzählt Jozef Gonschior, Aktivist der örtlichen deutschen Minderheit, vom Zusammengehörigkeitsgefühl, das trotz der Grenze erhalten geblieben sei. „Das Hultschiner Ländchen auf der anderen Seite der Grenze kam 1922 zur ČSSR, ohne daß darüber wie in Oberschlesien eine Volksabstimmung stattgefunden hätte. Die Verbindungen wurden aber nie abgebrochen, und viele der Ratiborer Deutschen sind mit den Mitgliedern der deutschen Minderheit um Hultschin herum verwandt oder verschwägert.“ Als sich die deutsche Minderheit in Raciborz organisierte, packten Gonschior und seine Kollegen ihre Vereinsstatuten und Mitgliedsformulare und fuhren über die Grenze. Dort übersetzten sie das Ganze ins Tschechische und halfen bei der Gründung des ersten „Deutschen Freundschaftskreises“ in der Tschechoslowakei. Heute tauschen sie ihre Volkstanzgruppen und Chöre aus, und die Bürgermeister deutscher Abstammung aus Schlesien und Hultschin treffen sich zum Erfahrungsaustausch.

Nicht überall findet die Europäisierung Oberschlesiens Beifall. So befürchtet die „Konföderation unabhängiges Polen“ (KPN), daß dadurch Polens Grenzen aufgeweicht werden, der Anschluß Schlesiens an Deutschland vollziehe sich schleichend. Beweis: die Landeerlaubnis für die Lufthansa auf dem Kattowitzer Flughafen und die Modernisierung des Telefonnetzes durch Siemens. Und so hat die KPN dann bereits vor einem Jahr Unterschriften zur Absetzung des Woiwoden Wojciech Czech gesammelt. „Uns geht es nicht um das Los von Warschau“, erklärt dagegen ein Aktivist des Oberschlesischen Bundes, „uns geht es um einen größeren Anteil am hiesigen Steueraufkommen. Hier leben 10 Prozent der Bevölkerung Polens, die 20 Prozent des Bruttosozialprodukts erwirtschaften. Davon gehen jedoch 100 Prozent nach Warschau, und maximal 7 Prozent kommen wieder hierher zurück. Das ist zu wenig.“

Konflikte mit Warschau sind so unausweichlich. Denn Polens neue Regierung aus Bauernpartei und exkommunistischen Sozialdemokraten ist zentralistisch gesinnt. Viele Gemeindeparlamente sind aber Hochburgen ihrer politischen Gegner aus Solidarność-Zeiten, und besonders in Schlesien herrscht ein stark ausgeprägter Lokalpatriotismus.

Dem Woiwoden Czech und seinen zahllosen oberschlesischen Stiftungen, Vereinen und Bünden werfen Bauernpartei, Exkommunisten und Nationalisten gerne vor, Nichtschlesier zu benachteiligen. „Nichtschlesier, das sind vor allem die Bewohner des östlichen Teils der Woiwodschaft Katowice, das erst nach dem Krieg dem historischen Schlesien zugeschlagen wurde. Mit Hilfe der dortigen Kommunisten sollte die Region so schneller polonisiert werden.

Die Abberufung von Czech könnte, so befürchten seine Anhänger, zu einer Rückkehr der polnisch-nationalen, antischlesischen Genossen der Regierungsparteien führen. Das aber sei Wasser auf die Mühlen der radikalen schlesischen Autonomisten. „Je größer die Frustration in Schlesien, desto stärker werden die Autonomisten“, findet etwa Dietmar Brehmer, deutscher Aktivist und Chef der „Oberschlesischen Charitativen Gesellschaft“. Brehmer fiel bei den Parlamentswahlen im September mit seiner Liste durch, „weil die Leute lieber für die radikaleren Autonomisten stimmten“, vermutet er.

Das Problem existiert auch jenseits der Grenze: „Auch bei uns gibt es eine Debatte über Regionalisierung“, nickt Vit Ruprich, „denn unsere kommunale Selbstverwaltung endet auf der Ebene der Stadträte. Im Rahmen der Regionalisierung wäre so die Bildung von Bundesländern innerhalb der Tschechischen Republik denkbar, ähnlich wie in Deutschland: Böhmen, Mähren und Schlesien.“ Mit Autonomie habe das nichts zu tun, weist Ruprich Analogien zu Polen von sich. Dennoch: Sollte so einmal wieder ein tschechisches Schlesien entstehen, wären die historischen Analogien unverkennbar. Schon vor der Teilung Oberschlesiens 1921 war der „Bund der Oberschlesier“ die stärkste politische Kraft der Region. In den Köpfen vieler Schlesier lebt seine Forderung von damals, aus den deutschen, polnischen und tschechischen Teilen Schlesiens ein eigenes Land zu machen, bis heute. Um so mehr, als der Bund vor einigen Jahren wiedergegründet wurde.