Japans Regierung hat nach schwerer Regierungskrise am Wochenende einen Kompromiß mit der Opposition erzielt. Durch mehrere Gesetze soll das Wahlrecht reformiert und die politische Korruption eingedämmt werden. Aus Tokio Georg Blume

Hinterm Berg beginnt das Experiment

„Das alte politische System ist verabschiedet, aber das neue noch nicht in Sicht“, warnte Japans führende Tageszeitung Asahi Shinbun. „Japan befindet sich mitten in einem politischen Experiment.“ Für das Experiment stimmten am Samstag beide Kammern des Tokioter Parlaments mit großen Mehrheiten, nachdem in der vorangegangenen Nacht ein Kompromiß zwischen Regierung und Opposition die wichtigsten politischen Reformen seit dem Zweiten Weltkrieg konsensfähig gemacht hatte. Darin enthalten sind eine Reform des Wahlsystems sowie Maßnahmen zur Bekämpfung der politischen Korruption: Parteispenden sollen künftig weitgehend durch die öffentliche Hand erfolgen.

Nach dem neuen Wahlsystem werden künftig 300 Abgeordnete gemäß dem Modell des englischen Mehrheitswahlrechts in 300 Wahlkreisen direkt gewählt und 200 weitere Abgeordnete durch eine Verhältniswahl über Parteilisten ermittelt. Bisher wählten die Japaner ihr Parlament in Wahlkreisen mit drei bis fünf Abgeordneten – was als Ursache der Korruption innerhalb der großen Parteien galt, da oft mehrere Politiker mit dem gleichen Parteiprogramm gegeneinander kandidierten. Im Wahlkampf gewann dann derjenige, der das meiste Geld zu verteilen hatte.

Anerkannte Parteien sollen künftig mit umgerechnet knapp 500 Millionen Mark pro Jahr aus der Staatskasse unterstützt werden. Eine Partei kann aus diesem Fonds bis zu 40 Prozent ihrer Einkünfte des Vorjahres erhalten. Um in den Genuß der Subventionen zu kommen, muß eine Partei bei den vorangegangenen allgemeinen Wahlen mindestens zwei Prozent der Stimmen erhalten haben. Unternehmen dürfen einzelnen Politikern Parteispenden nur noch in Höhe von umgerechnet bis zu 7.500 Mark pro Jahr zukommen lassen. Nach einer Übergangsfrist (bis 1999) sollen Parteispenden grundsätzlich verboten werden.

„Wir haben einen hohen Berg erklommen“, kommentierte Ministerpräsident Morihiro Hosokawa den für seine Regierung bedeutensten politischen Erfolg seit der 1993 erfolgten Ablösung der Liberaldemokratischen Partei (LDP), die Japan zuvor 38 Jahre ohne Unterbrechung regiert hatte. Lob bekam der japanische Regierungschef auch aus dem Ausland. Der südkoreanische Präsident rief gleich persönlich an, und von Bill Clintons Chefberater Robert Rubin kam die Botschaft: „Der Präsident hegt an diesem Tag enormen Respekt für Japan.“

Der politische Generationswechsel hatte 1993, ähnlich wie in Japan, in den USA und Südkorea unverbrauchte Reformer an die Macht gebracht. Gemeinsam gelang es den USA, Japan und Südkorea, den demokratischen Aufbruch Asiens und Amerikas ins pazifische Zeitalter glaubwürdig zu machen. Deshalb fürchteten US-Präsident Bill Clinton und sein südkoreanischer Amtskollege Kim Young Sam in den letzten Tagen mehr als andere um ihren japanischen Partner.

Noch am Freitag mittag galt Hosokawa als politisch erledigt, nachdem seine Reformen eine Woche zuvor vom Oberhaus abgelehnt worden waren. Dann geschah das Überraschende: Innerhalb nur weniger Stunden entflechteten der Premier und sein politischer Gegner Yohei Kono, Chef der oppositionellen LDP, den Stoff eines sechsjährigen Parteienstreits, um ihn noch in der gleichen Nacht zu einen Kompromiß von historischer Tragweite zusammenzuknüpfen. Der Grund für die wundersame Übereinkunft: Beide standen am Rande des Abgrunds und Japan kurz vor dem politischen Chaos. Wären die umstrittenen Reformgesetze am Samstag nicht verabschiedet worden, Japan hätte heute keinen Regierungschef mehr. Und das Land würde von einer ziellosen, da ihres Reformprojekts beraubten Koalition regiert werden, während die LDP – unter dem Druck von Reformgegner und -befürwortern – in zwei Teile gespalten wäre. Weder Hosokawa, der sein Amt schon bei der Regierungsübernahme mit den Reformgesetzen verknüpft hatte, noch LDP-Chef Kono, der mit dem Parteiaustritt von 20 reformwilligen Abgeordneten rechnen mußte, hätte langfristrig ein Scheitern der Reformen überlebt. Beide Politiker nutzten die Chance, jetzt ihren Kompromißentwurf zu lancieren. Tatsächlich macht das Reformwerk auch die Liberaldemokraten wieder politikfähig. Premier Hosokawa betonte, daß er nun auch in anderen politischen Bereichen die Übereinstimmung mit LDP-Chef Kono suchen werde. Hinter diesen Manövern vom Wochenende zeichnet sich bereits die neue japanische Parteienlandschaft ab. Denn tatsächlich müssen sich nun alle Parteien auf neue Allianzen vorbereiten. Das bei der nächsten Wahl vorherrschende Mehrheitswahlrecht zwingt zur Bildung von zwei großen Blöcken.

Viele Beobachter sagen deshalb in Japan innerhalb der nächsten Jahre die Entstehung eines Zweiparteiensystems wie in den USA voraus. Unstrittig ist dabei, daß die zukünftigen Parteigrenzen kaum in den derzeitigen zwischen Regierung und Opposition verlaufen werden. Parteiprogrammatisch stehen die neuen konservativen Parteien innerhalb der Regierung dem nationalistischen LDP-Flügel näher als ihren Koalitionspartnern. Umgekehrt erkennen Regierungschef Hosokawa von der Neuen Partei Japans (NPJ) und die derzeit mitregierenden Sozialdemokraten mehr Gemeinsamkeiten mit dem liberalen LDP-Flügel um Parteichef Kono.

In der Zeit bis zu den nächsten Wahlen könnte Morihiro Hosokawa, dessen Großvater als Kriegspremier zwischen 1937 und 1941 beliebt war, aber einflußlos blieb, zur Heldenfigur heranwachsen. Schon gestern ergaben Blitzumfragen der japanischen Fernsehanstalten, daß 80 Prozent der JapanerInnen Hosokawas Kurs befürworten; vor einem guten halben Jahr brachte es sein Vorgänger, der Liberaldemokrat Kiichi Miyazawa, nicht einmal mehr auf zehn Prozent. Hosokawas Ansehen gründet darauf, daß er sich viele Jahre vor allen anderen ehemaligen Parteifreunden von der LDP absetzte, mit anfangs großem Risiko die bisher einzig wirklich neue Partei im Land, die NPJ, gründete und nun auch an der Regierung hielt, was er versprach.

Dennoch gibt es berechtigte Kritik am Kompromiß mit der LDP. Vor allem im Bereich der Parteienfinanzierung, wo sich die Politiker bisher frei nach Laune aus allen Konzernkassen bedienten, hapert es. Ursprünglich sollte der Gesetzentwurf Spenden von Unternehmen an Politiker grundsätzlich verbieten und nur noch an Parteien erlauben. Nun aber darf jeder Politiker noch bis 1999 Unternehmensspenden erhalten. „Bei der Trennung zwischen Wirtschaft, Geld und Politik fehlte die politische Einsicht. Und man fragt sich: Wozu dann überhaupt die Reform?“ resümierte Asahi Shinbun die immer noch schwachen Erfolgsaussichten des Kampfes gegen die politische Korruption.