: „Sie sind wohl eine Christin?“
Anna Flemming berät im Ökumenischen Informationszentrum AusländerInnen, die in Dresden leben ■ Von Detlef Krell
Am Anfang meiner Arbeit bei „Cabana“ hat mir eine Vietnamesin gesagt: Du bist gar keine normale Deutsche, du redest ja über deine Großmutter.“ Die 33jährige Anna Flemming erzählt gern solche Episoden. Die Geschichte zum Beispiel, wie sie 1990 mit ihren FreundInnen aus der gerade eben gegründeten „Cabana“ von Kaufhalle zu Kaufhalle durch Dresden zog und tütenweise Reis und andere Lebensmittel für Mosambikaner und Vietnamesen einkaufte. Damals gab es diesen Regierungserlaß, wonach sich „Ausländer“ an den Kassen ausweisen mußten und von den VerkäuferInnen nach Gutdünken kontingentiert wurden. Oder: Wie ein Armenier sie aus Abschiebehaft heraus über seinen Anwalt bat, für ihn in der orthodoxen Kirche drei Kerzen aufzustellen und zu beten.
Wer sich mit Anna Flemming auf ein Gespräch einläßt, muß viel Zeit mitbringen und sich auf blitzartige Wetterwechsel gefaßt machen. Aus den Episoden werden philosophische Exkurse, mit Fragen gespickt und manchmal von einem sarkastischen Humor durchsetzt. Durch das Fenster ihres engen Arbeitszimmers sind sehr nah die Sandsteinquader und ionischen Kapitelle der Dresdner Kreuzkirche zu sehen. Ein Teil des Fensters ist von Aktenordnern und Bücherstapeln verstellt, wie auch alle Regale und Tische. Das Mobiliar könnte noch vom vorherigen Nutzer des Hauses an der Kreuzstraße stammen, der SED-Kreisleitung Dresden-Land. Nur der Computer wirkt in dieser Umgebung wie geborgt. BesucherInnen hocken auf wackligen, harten Stühlen, dafür bekommen sie Tee serviert sowie eine freundliche Lektion in bundesdeutschem Recht.
Anna Flemming, Jurastudentin, Schöffin am Dresdner Landgericht und seit mehr als vier Jahren Beraterin bei „Cabana“, schreitet den drögen Gesetzesspielraum mit einem ansteckenden Vergnügen aus. „Ich bin zwar ein kreativer Mensch, aber ich weiß auch, daß mir die besten Ideen kommen, wenn mir ein Gerüst vorgegeben ist. Andererseits kann ich Kreativität schnell in allerlei Richtungen verpowern. Mit dem Gesetz sind mir Grenzen vorgegeben, und die Kunst besteht darin, sie auszufüllen.“
An „Cabana“ wenden sich heute vor allem VietnamesInnen und MosambikanerInnen, einstige „DDR-Vertragsarbeitnehmer“, die sich nun in Dresden niederlassen wollen. Nach dem Beschluß der letzten Innenministerkonferenz haben sie bis Ende April Zeit, sich um Wohnung und Arbeit zu kümmern. Wem es nicht gelingt, seßhaft zu werden, dem droht Abschiebung. Die über lange Zeit völlig unklaren Aufenthaltsperspektiven für ehemalige „GastarbeiterInnen“ haben der internationalen Zigarettenmafia billige Arbeitskräfte beschert, vietnamesische Frauen vor allem, die mit dem Kippen-Verkauf sich und die Großfamilie daheim in Vietnam über Wasser halten müssen. Stehen Gerichtsverhandlungen an, versucht „Cabana“ einen der wenigen Rechtsanwälte zu vermitteln, die sich in Dresden mit Ausländerrecht befassen. Zu „Cabana“ kommen jetzt aber auch armenische Flüchtlinge, denen Abschiebung droht, Bürgerkriegsflüchtlinge aus Kroatien, serbische Militärdeserteure, AussiedlerInnen. Mit Anna Flemming arbeitet ein Vietnamese. In der sächsischen Landeshauptstadt ist „Cabana“ die wichtigste Adresse für ratsuchende AusländerInnen. Daneben gibt es nur noch das Büro der kommunalen Ausländerbeauftragten und den politisch engagierten Ausländerrat.
Anna Flemming wurde in Dresden als ältestes von vier Kindern einer geachteten „großbürgerlichen Theologenfamilie“ geboren. In der als atheistisch postulierten DDR-Gesellschaft war es üblich, daß sich Pfarrerskinder sehr gut kannten und viel Zeit miteinander verbrachten; es war eine Kindheit in einer recht genau umrissenen, kleinen Welt, in der „die Eltern uns auch all das an bürgerlichen Bildungswerten vermittelten, was die Schule nicht wollte und nicht konnte“. Doch erlebte sie dieses elterliche Bemühen zunehmend auch als Ausgrenzung. Als Pfarrerskinder waren sie „selbstverständlich“ nicht bei den Pionieren und haben sie „selbstverständlich“ keine Jugendweihe bekommen. Sie litt darunter, als das einzige Kind in der Klasse nicht Pionier zu sein, statt dessen zum Religionsunterricht zu müssen und in der Schule wie zu Hause „so einen Erwartungsdruck zu spüren, wie Pfarrerskinder eben zu sein haben“.
So begann sie schon beizeiten, die Welt der Eltern kritisch zu befragen. Der erste Schritt war blanker Trotz: Mit 14 trat sie der „Freien Deutschen Jugend“ bei, konsequent bis zur Wahlfunktion. Daheim las sie sich „kreuz und quer“ durch den elterlichen Bücherschrank, fand sie Solschenizyn und Wolfgang Leonhard, und dennoch ließ sie sich als Studentin der Verfahrenstechnik zur FDJ-Sekretärin ihrer Seminargruppe wählen. Diesen Posten behielt sie während des gesamten Studiums. „Aber dann hatte ich genug davon, hatte ich diese Phase, mit der Masse konform sein zu wollen, hinter mir.“ Heute weiß sie, „daß ich letztlich doch viele Werte meiner Eltern zu meinen eigenen gemacht habe“.
Seit der 11. Klasse kannte sie Matthias, einen Jungen aus „einer so richtig roten proletarischen Tradition.“ Großer Schreck für die Eltern, seine wie ihre. „Matthias war noch in der SED, weil er wirklich gehofft hatte, dort etwas ändern zu können, zu einem Sozialismus hin, wie wir ihn verstanden.“ 1988 wurde Rumäniens Diktator Ceaușescu mit dem Karl-Marx-Orden ausgezeichnet und der sowjetische Sputnik in der DDR verboten, das war für beide das Ende der Illusionen und der Einstieg in die „intellektuelle Nische“, wo mit Freunden über Bücher und Bilder debattiert wurde und wo der Staat wie die aktive Opposition gleichermaßen vor der Tür blieben. In dieser Zeit mußte Anna Flemming erfahren, daß ihr Mann an Krebs erkrankt ist. Sohn Paul lernte gerade laufen, und als Tochter Laura geboren wurde, dauerte es nicht mehr lange, und der Kranke mußte zu Hause bleiben. Die Mutter arbeitete im Buchhandel, der Vater lebte die verbleibende Zeit intensiv mit den Kindern.
Als im Herbst 1989 von der Kreuzkirche aus die „Montagsdemos“ aufbrachen, hatte sich Anna Flemming bereits in ein für die Stadt einzigartiges Projekt gestürzt: das Café Cabana, mit ihr Marita Schieferdecker-Adolph, heute kommunale Ausländerbeauftragte, und andere engagierte DresdnerInnen, die meisten aus Kirchenkreisen. Der sonnabendliche Cabana-Treff in einem Gemeindezentrum geriet schon bald zu einer politischen Instanz für AusländerInnen, der einzige Ort, an dem sie sich mit Deutschen austauschen konnten über die gesellschaftlichen Veränderungen in diesem Land. Schnell wurde deutlich, was die AusländerInnen viel dringender brauchten als multikulturelle Feste: eine fundierte Beratung, konkrete Hilfe im Alltag.
„Dadurch, daß ich die Beratungsarbeit ganz allein aufgebaut habe und Matthias mit den Kindern zu Hause war, habe ich mich in einer Weise profilieren können, wie es kaum einer Frau in meinem Alter, mit zwei kleinen Kindern, gelingt.“ 1990 wurde sie in das letzte DDR-Fernstudium Jura immatrikuliert, damit gehört sie zu denen, die noch bis 1996 ihr Staatsexamen machen dürfen. Ihre „kritische Distanz“ zum Staat DDR hatte sie in eine intellektuelle Nische getrieben. Die kritische Distanz zum neuen Deutschland will sie mit ihrer Arbeit ausfüllen. „Ich habe in der DDR nicht diese klassische Karriere als politisch Verfolgte gemacht, und ich gedenke das auch jetzt nicht zu tun“, gesteht sie ein „Harmoniebedürfnis“ ein, „das aber nicht Konfliktunfähigkeit bedeuten muß.“
Als Schöffin wurde sie einmal von einem Rechtsanwalt angegangen: „Sie arbeiten für die Kirche? Sie sind wohl Christin?“ Da sei sie sprachlos gewesen. „Wenn der das mit so einem negativen Unterton sagt, versteht er möglicherweise etwas anderes darunter als ich. Also kann ich nicht ohne weiteres ja sagen.“ Ein befreundeter Anwalt stand ihr bei: „Nein, nein, aber sie ist eine der wenigen, die so leben, als wären sie Christen.“ Die Antwort fand sie genial. „Ich glaube an die Göttlichkeit der Welt, die Göttlichkeit der Schöpfung. Meine Kinder hatten im Kindergarten ein Tischgebet: Erde, die uns dies gebracht, Sonne, die es reif gemacht, liebe Sonne, liebe Erde, Euer nie vergessen werde.“ Damit sei ihre „schwer zu beschreibende Religiosität“ in etwa umrissen: „Dieses Denken: Es gibt nicht nur diese eine Welt. Es gibt viele Welten. Als wir wußten, daß Matthias geht, haben wir den Kindern Bilder geschaffen: Der Vater geht von der einen Welt in die andere, zu den Großeltern, zu anderen, die gestorben sind. Ich habe nicht so ein menschliches Gottesbild. Manchmal denke ich, das ist doch fast materialistisch: Was nach dem Tod von dir bleibt, ist doch das, was du auf der Erde von dir zurückläßt.“
Das Ökumenische Informationszentrum mit der Beratungsstelle Cabana wird von acht Kirchengemeinden getragen. Anna Flemming bezeichnet es als eine „recht schwierige Aufgabe“, die diplomatische Balance zwischen den Kirchen zu halten. Sie selbst praktiziere „zur Zeit in keiner der Hauptkonfessionen“. Mit der Institution Kirche habe sie „in dem Moment Probleme, wenn Kirche Macht bekommt“, eine Tendenz, die sie in ihrer Umgebung mit Sorge registriert. „Nach der Wende war es für mich eine überraschende Situation, daß die Kirchen, die sich auf Ausländer eingelassen haben, in der Regel die Freikirchen waren. Die Hauptkonfessionen waren damit befaßt, sich wiederzuvereinigen und mit dem Religionsunterricht an den Schulen zu beginnen.“
Anna erzählt rührende Geschichten, wie Gemeinden zu Weihnachten auch den Flüchtlingen etwas Gutes tun wollten und Päckchen gepackt haben, dann aber ganz erstaunt waren, daß in Flüchtlingsheimen nicht 20, sondern 200 Menschen zusammenleben. In solcher Situation ist wieder die Diplomatin gefragt. Betrübt ist sie aber doch darüber, „daß viele Kirchgemeinden eigentlich nur auf Flüchtlinge aufmerksam werden, wenn sie sich sowieso wegen der Weihnachtszeit mit Maria und Joseph beschäftigen, als prominenteste Flüchtlinge der Bibel. Dabei müßten sie bei Moses, Elias, Ruth, immer wenn alttestamentliche Szenen behandelt werden, darauf kommen, daß es noch Flüchtlinge gibt. Das Alte Testament ist immer wieder eine Geschichte von Flucht aus Glaubensgründen, Flucht aus Bürgerkriegsgründen...“
Wenn Sprechstunde ist bei „Cabana“, reichen die Warteplätze auf dem langen Gang des Ökumenischen Informationszentrums oft nicht aus. Laura und Paul, die beiden Kinder, kommen dann gern nach der Schule vorbei und lassen sich interkulturell verwöhnen. Darüber gibt es wieder eine kleine Geschichte: „Eine Vietnamesin hat mal versucht, meiner Tochter Laura ein Märchen auf deutsch vorzulesen. Laura war ziemlich müde, die Vietnamesin hatte Probleme mit der deutschen Sprache, und nach einiger Zeit fragte Laura: ,Kannst du das nicht auf vietnamesisch vorlesen?‘“
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