Das langsame Ende der Ukraine?

■ Die Krim wählt mit Mjeschkow einen prorussischen Präsidenten

Warschau (taz) – Der Sieg des prorussischen Präsidentschaftskandidaten Juri Mjeschkow im zweiten Wahlgang auf der Krim läßt in Kiew die Alarmglocken schrillen. Die ukrainische Regierung hatte auf Nikolai Bagrow gesetzt, den bisherigen Vorsitzenden des Krimparlaments, der 1991 den Moskauer Putsch gegen Gorbatschow unterstützte, sich aber trotzdem danach durch geschicktes Taktieren im Amt halten konnte. Immer wieder trat er zurück, immer wieder lehnte das Parlament seinen Rücktritt ab. Um Kiew nicht zu erschrecken, hielt er sich mit separatistischen Äußerungen zurück, um die Mehrheit der Russen hinter sich zu bringen, forderte er die wirtschaftliche Integration der Krim mit Rußland. Kurz vor den Wahlen forderte er Wahlpräferenzen für die mehrere hunderttausend Menschen umfassende tatarische Minderheit auf der Halbinsel.

Geholfen hat es wenig, sein Gegenkandidat Mjeschkow erzielte über 70 Prozent – obwohl die Tataren und teilweise auch die ca. Zwanzigprozentige ukrainische Minderheit, die den ersten Wahlgang boykottiert hatten, im zweiten für Bagrow stimmten.

Mjeschkow gehört der Republikanischen Partei der Krim an. Er befürwortet einen friedlichen Prozeß der Wiedervereinigung mit Rußland in mehreren Stufen, beginnend mit einer Volksabstimmung. Nach Ansicht von Beobachtern wird sein Sieg zunächst weniger die Beziehungen zwischen Rußland und der Ukraine als vielmehr das Verhältnis zwischen den Volksgruppen auf der Schwarzmeerhalbinsel belasten. Ein Politiker der überwiegend moslemischen 250.000 bis 300.000 Krimtataren, Nadir Bekirow, sagte, das Wahlergebnis könnte zum „Sprengstoff für die gesamte Ukraine“ werden.

Weshalb, so fragt man sich in Kiew, haben die Russen der Krim nun zu drei Vierteln für einen Separatisten gestimmt, wenn sie doch vor zwei Jahren beim Referendum über die ukrainische Unabhängigkeit noch mehrheitlich auf seiten der Ukraine waren?

Separatistische Tendenzen gibt es inzwischen fast in jedem ukrainischen Landesteil. Meist kommen dazu drei Faktoren zusammen, die für die Ukraine insgesamt bedrohlich sind: Die lokale Nomenklatura hofft, mit Hilfe von Autonomiebestrebungen ihre Position halten zu können, die Bevölkerung hofft, sich von der all-ukrainischen Wirtschaftsmisere abkoppeln zu können, und nationale Minderheiten rechnen auf engere Bindungen mit ihren Ländern jenseits der Grenze. Glaubt man insbesondere der Kiewer und westukrainischen Presse, werden alle die Tendenzen noch kräftig von außen mit Geld und geheimdienstlicher Unterstützung angeheizt.

Unbestritten ist, daß die zwei großen Streikwellen in der Ost- Ukraine im vergangenen Jahr zum Teil von Organisationen prorussischer Separatisten koordiniert wurden und sich im Westen, in der Karpatoukraine, 1993 sogar eine „ruthenische Exilregierung“ zu Wort meldete, die den Anschluß an die Slowakei fordert. Allerdings erhielten alle diese Tendenzen enormen Auftrieb durch die Wirtschaftsmisere, die das Einkommensniveau in der Ukraine auf einen Bruchteil des Lebensstandards in den Nachbarländern hat schrumpfen lassen.

Auf den Wahlsieg Mjeschkows im ersten Wahlgang hatte das Kiewer Parlament mit der Aufforderung an Präsident Krawtschuk reagiert, „verfassungswidrige Beschlüsse des Krimparlaments aufzuheben“ – gemeint waren die Präsidentschaftswahlen, die für ungültig erklärt werden sollten. Das an sich fertige Gesetz zur Regelung der Autonomie der Karpatoukraine wurde vom Parlament in Kiew immer wieder vertragt und ist bis heute nicht verabschiedet. So schaukeln sich Autonomisten und Separatisten in der Provinz und nationalistische Politiker in Kiew und Lemberg, die in jeder Selbstverwaltungsforderung Landesverrat sehen, immer wieder gegenseitig hoch. Zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang auf der Krim kam es so auch zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen Kiew und Bukarest um die Bukowina, die vor dem Zweiten Weltkrieg zu Rumänien gehörte und heute noch von einer 200.000köpfigen rumänischen Minderheit bewohnt wird.

Ukrainische Publizisten diagnostizieren schon seit langem eine tiefer werdende Spaltung zwischen dem nationalistischen Westen und dem prorussischen Osten des Landes. Einem CIA-Bericht zufolge, der vor kurzem durch die Presse ging und angeblich US-Präsident Clinton bei seinem jüngsten Gipfel mit Jelzin zu einem Umweg über Kiew veranlaßte, droht der Ukraine ein Zerfall in eine unabhängige Westukraine und einen von Rußland beherrschten Osten. Das allerdings wäre erst das Ergebnis eines Bürgerkrieges, den die US-Experten befürchten. Klaus Bachmann