: „Modernisierung“ des Standorts SPD
Anläßlich eines Forums zum Thema „Modernisierung des Standorts Deutschland“ gestern in Bonn führte die SPD-Spitze Vertretern aus Wirtschaft und Verbänden vor, wohin im Falle einer Regierungsübernahme durch die SPD die Reise gehen soll.
Schon der erste Blick in den Saal verriet: Man geht wieder hin. Zur SPD nämlich, die bis zum Juni – dann findet der Parteitag statt – nicht nur in ihren Gremien, sondern auch öffentlich über ihre zukünftige Regierungspolitik diskutieren will. Der Auftakt der geplanten Veranstaltungsserie (W 94 – Das Programm im Dialog“) galt gestern im Bonner „Maritim“ der Wirtschaftspolitik. Rund dreihundert Vertreter (überwiegend männlich, gedeckter Anzug) aus Wirtschaft und Verbänden hatten sich eingefunden, um von Parteichef Rudolf Scharping und seinem Vize Oskar Lafontaine die sozialdemokratischen Vorstellungen zur „Modernisierung des Standortes Deutschland“ zu erfahren. Tyll Necker, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) und Wolfgang Fritz, Geschäftsführer der Junghans Uhren GmbH auf der Unternehmerseite, die ÖTV-Vorsitzende Monika Wulf-Mathies auf der Gewerkschaftsseite gaben der SPD die Ehre und kreuzten auf dem Podium die Klingen.
Die Gewerkschaftschefin schüttelte nicht nur einmal bedenklich das Haupt, während die beiden Parteioberen redeten. Scharpings grundsätzliches Bekenntnis zur Kompensation der Arbeitgeberkosten für die Pflegeversicherung oder Lafontaines deutliche Aufforderung zur tarifpolitischen Mäßigung stießen bei ihr auf erkennbares Mißvergnügen. Doch die Zeiten sind so ernst, daß auch der rhetorische Klassenkampf moderat ausfällt. Auch Wulf-Mathies bekennt sich zur gesamtwirtschaftlichen Vernunft.
Drei Leitlinien hatte Rudolf Scharping entwickelt: umweltverträgliches Wachstum, verläßliche politische Rahmenbedingungen, die Modernisierung des Staates. Der Ruf nach Wachstum, mit oder ohne den Zusatz der Umweltverträglichkeit, war der große Konsens des gestrigen Tages. Ohne Wachstum keine neuen Arbeitsplätze, so die Losung des beginnenden SPD-Wahlkampfes.
Daß sich hinter den Formeln die brisanten Probleme verbergen, verhehlte der gewohnt unspektakuläre Vorsitzende nicht. Zu den langfristig verläßlichen Rahmenbedingungen, die „wenn man so will, in einer konzertierten Aktion“ entwickelt werden müßten, gehören auch die Faktoren Arbeitskosten und -organisation. Scharping erkannte die Notwendigkeit ausdrücklich an, die Arbeitskosten zu senken. Man solle „wirklich aufeinanderzugehen“, so seine ausdrückliche Forderung an die Tarifparteien der Metallindustrie. Bei vollem Lohnausgleich, wiederholte Scharping seine Feststellung des Wiesbadener Parteitags vom November 93, sei Arbeitszeitverkürzung heute nicht zu haben. Abschied von traditionellen Bildern und den Vorstellungen zur staatlichen Modernisierung: Die Qualität der Dienstleistungen ist entscheidend, nicht „wer sie erbringt“. Was heißt, daß auch sozialdemokratische Minister über Deregulierung und Privatisierungen pragmatisch zu entscheiden haben.
Ausdrücklich präsentierte Scharping seine Partei als die Kraft, die die „notwendigen psychologischen Voraussetzungen“ schaffen kann. Die „gemeinsamen Anstrengungen“, (daß die nötig sind, ist der zweite Konsens im Saal) müssen sich mit „gerechten Zumutungen“ verbinden. Kaum einer gesonderten Erwähnung bedarf es noch, daß die Bundesregierung hier völlig versagt hat. Lafontaine ergänzte die Reihe unorthodoxer Bereitschaftserklärungen mit einer Absage an staatlich finanzierte Konjunkturprogramme, denn es handle sich gegenwärtig um eine „nicht-keynesianische Situation“. Sein Credo: Die „ökologische Modernisierung ist der Wachstumspfad der Wirtschaft“.
BDI-Chef Necker will weniger und mehr. Die ökologische Erneuerung sei leider „kein Patentrezept“, dämfte er zu große Hoffnungen auf diesen Weg. Mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß er sich auf den Wiesbadener Parteitag vom November beziehe, kritisierte Necker alte Neigungen: „Leider überwiegen Umverteilungsideen.“ Es gehe aber darum, durch Leistung wieder mehr zu erwirtschaften. Deutschland entwickle sich zur Staatswirtschaft, „wir haben mehr verteilt als erwirtschaftet“, so sein Befund, der der gegenwärtigen Regierung keine Bestnoten erteilt.
Seine zentrale Forderung: Die Arbeitskosten müssen gesenkt werden, auf ganzer Front. Die SPD, urteilte Necker jedenfalls über das Wiesbadener Wirtschaftsprogramm, leugne immer noch den Zusammenhang von Lohnkosten und Arbeitsangebot. Lafontaines Position gegen „Wunschlöhne im Osten“ sei ausdrücklich zu unterstützen. Necker fehlten Aussagen zur „zukunftssicheren Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme“ im Programm der Sozialdemokraten. Eigenverantwortung und -vorsorge müßten gestärkt, die knappen Mittel auf die wirklich Bedürftigen konzentriert werden.
Was macht ein Unternehmen stark, fragte der erfolgreiche Junghans-Geschäftsführer Fritz das Publikum. Die Nähe zum Markt. Der deutschen Industrie, so der erfolgreiche und nach eigenem Bekenntnis „kleinere“ Mittelständler, sei es in den letzten zehn Jahren zu gut gegangen. An die Adresse der Politik: „Mir fehlen die Perspektiven, die Visionen. Man muß realitätsnäher werden.“ Fritz mahnte vor allem „Motivation“ als Standortfaktor an. Ihm fehlen die Persönlichkeiten, die vorangehen, die „Zugpferde“.
Monika Griefahn, niedersächsische Umweltministerin und Umweltverantwortliche für das künftige Wahlprogramm, bleibt im Podium mit ihrem Blick auf den ganzen Globus recht allein. Zwanzig Prozent der Bevölkerung im Norden verfrühstückten achtzig Prozent der Ressourcen der Erde, so ihr Ausgangspunkt. Eine zukunftsfähige Produktion müsse aus diesem Blickwinkel handeln – auch im Interesse des Standorts Deutschland. Tissy Bruns, Bonn
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