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PortraitAm Ende war es keiner gewesen

■ Vor zwanzig Jahren starb die Schriftstellerin Marieluise Fleißer

Als „gestisches Sprechen“ wird die Sprache der Marieluise Fleißer bezeichnet. Sie geht direkt auf die Aussage zu mit einer unverrückbaren Genauigkeit.

Was Kinder in der Erzählung „Die Dreizehnjährigen“ sagen und tun, ist nichts als die Nachahmung der Erwachsenen. Sie wird jedoch bedrohlicher als bei den Großen. Die Mentalität, aus der sie kommt, ist aus Vorurteilen, religiöser Unterwerfung, welche die Vorstellung von Gott auf die Erde herunterholt, sie mit Aberglauben vermischt. So werden Vorurteile und Religion praktikabel. Im Spiel entsteht eine Ernsthaftigkeit, über die Erwachsene längst hinaus sind. Die schönsten Märchen sind unheimliche Märchen. Die schönsten Spiele sind unheimliche Spiele. Die sexuelle Neugierde probiert alles aus bis aufs Blut.

In Zeiten, in denen die Welt Schritte macht, gehen Vorurteile leicht aus dem Kopf in die Hände. Feindselige Redewendungen werden wahr. Sie spüren den Konsens der Umgebung und handeln. Solche Zeiten haben wir jetzt wieder.

Marieluise Fleißer hat diese Erzählung 1923 mit dem Titel „Meine Zwillingsschwester Olga“ geschrieben. Sie ist ihr erster erhaltener und ihr erster veröffentlichter Text. Die Autorin, am 23. November 1901 in Ingolstadt geboren, war damals 22 Jahre alt. Man bescheinigte dieser Erzählung die „gestörte Naivität von George Grosz“. Die Fleißer hat sich darin, wie in allem, was sie schrieb, an ihre persönliche Erfahrung gehalten: „Die Dreizehnjährigen gehen auf eine Bekanntschaft meiner Kindheit zurück. Ich wurde damals von dem Sohn einer Wirtschaftspächterin, der in der Kupferstraße und in dem meinem Vaterhaus gegenüberliegenden ,Bäckerhof‘ – der zu einer Brauerei hinüberführte – herumstreunte, geradezu verfolgt. Dreizehnjährig war allerdings nur der Knabe, ich selber ein gutes Jahr jünger“, schreibt die Autorin.

In den Sätzen der Geschichte steht das Einfachste des Möglichen. Will man es nacherzählen, zerbricht es. Es ist so authentisch, daß es keinen fremden Atem annimmt. Will man es wiedergeben, geht man schon in die Breite. Man tut dort etwas hin, wo bei der Fleißer nichts stehen darf. Man reiht um das Nackte herum Verkeidetes, weil man sich helfen muß. Aber in den Sätzen stehen die nackten Nadeln aus den Wörtern. Alles, was die Ebene des Geschriebenen treffen will, rutscht ab. Es geht einem wie in dieser Passage der Autorin: „Was dich beißt, sind nicht deine Flügel, wo herausstoßen wollen mit aller Gewalt, das bleibt ewig dein Buckel ... Man möchte halt über sich hinaus und muß pochen an fremder Tür ...“

1924 lernt Marieluise Fleißer Brecht kennen. Unter seinem Einfluß entstehen ihre ersten Stücke. Die Aufführung von „Pioniere in Ingolstadt“ führt zu einem Skandal. Die Rechtspresse sieht in der Autorin „eine schlimmere Josephine Baker der weißen Rasse“, das katholische Ingolstadt eine „Nestbeschmutzerin“.

Wie schlafende Vorurteile aufwachen und zum rohen Handeln werden, hat Marieluise Fleißer im Nationalsozialismus gespürt. In der Erzählung „Die Dreizehnjährigen“, die sie 1969 überarbeitet hat für den Sammelband „Abenteuer aus dem englischen Garten“ (Bibliothek Suhrkamp, 1969), hat sie aus diesem Grund den Ausgang der Geschichte geändert: Sie hat den letzten Absatz dazugeschrieben.

Allein daran sieht man die moralische Integrität ihres Schreibens. Die Fleißer fordert Moral so konsequent von sich ein, daß der Ton der Worte nicht falsch werden kann.

Dieser letzte, hinzugeschriebene Absatz hat eine Plötzlichkeit wie ein Stoß von hinten. Er wirbelt den Text noch einmal auf. Das Schweigen macht sich über den Lesenden her, nach diesen vier kurzen Sätzen. Mehr gibt uns die Fleißer nicht.

Am 1. Februar 1974 ist Marieluise Fleißer in Ingolstadt gestorben. Heute ist ihr Name selten im Gespräch. Heute passiert es, daß man ein Buch von ihr bestellt und den Namen der Autorin dreimal sagen muß, bis der Buchhändler ihn versteht und dann falsch aufschreibt. Und wenn die Fleißer erwähnt wird, spricht man von der Dramatikerin im Schatten Brechts. Ihre Erzählungen werden leider an den Rand geschoben. Herta Müller

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