Die Dreizehnjährigen

Eine Erzählung  ■ Von Marieluise Fleißer

Es fing damit an, daß er eine kleine Tonpfeife aus der Tasche zog und sie anrauchte. Die Kinder standen um ihn herum und waren neidisch. Er hieß Willy Sandner.

„Ich habe noch neunundzwanzig. Sie sind von einem Matrosen“, sagte er und sah zu Olga hinüber. Olga schaute in die schwarze Öffnung der Garnisonskirche.

„Es ist leicht auszudenken“, sagte er, „daß nicht jeder dreißig weiße Pfeifen hat.“ Wie unheimlich leer die Kirche immer war, ganz protestantisch. Olga zog die Schultern zusammen. „Protestanten kommen nicht in den Himmel“, sagte sie laut und musterte Erna. Erna wurde dunkelrot.

Sandner sagte: „Ich kann auch welche wegschenken, wenn ich will.“ Olga bat nicht. Die Kinder lauerten regungslos nach einer Pfeife.

„Überhaupt tue ich, was mir gefällt“, er lüftete die Lippe ein wenig. Ich dachte, Olga sei dumm, sie hätte sie mir schenken können.

Erna wollte eine haben. „Will vielleicht noch jemand eine?“ Er griff in die Tasche, stellte den Kiefer vor, indem er sich bückte. Träumerisch klopfte er die weißen Pfeiflein an seinem Absatz entzwei.

Die Kinder waren gelähmt. Ich höre noch wie heute den Wind in den Kastanien klatschen. Von der Schranne her wehte das Dunkel wie feiner Staub.

Olga zuckte die Achseln. Willy Sandner stand da, als ob er sehr schlecht sei. Erna schimpfte: „Die Rothaarigen kennt man.“

Ich dachte, daß es jetzt Zeit war. Olga sah auch nach der Kirche. Sie sagte, daß er wieder da ist. Alles schrie: „Der Teufel!“ und lief davon, was es nur konnte. Olga ging in die Kirche zum Teufel. Aber Sandner ging hinter ihr her. Da sah ich, daß es verpatzt war.

Der dunkle Mann war ein Franziskaner, der ganz hoch an der Wand herumstieg und die oberen Fenster zumachte. Es war kein Kunststück, da war ein Gesimse. Olga hatte es aufgebracht. Olga kam zur Schranne herüber und sagte, es ist heute nicht der Teufel.

Sie stellte sich an die Wand und ärgerte sich. Ein paar Mädchen standen herum. Alle hatten kleine Gesichter. Olga drückte die Ellbogen eng nach innen und ließ ihre Hände hängen. Ich sah, daß sie wieder den Krampf hatte. Sie war dumm gefallen. Erna wollte wissen, wie es war. Olga sagte nichts, es war gescheit. Ihre Augen waren wie eine dunkle Wunde.

Ich war traurig. Ich hatte sie fallen sehn mit gespreizten Beinen. Das war noch im alten Schulhof, dort waren Bänke gestapelt. Von einem hohen Stapel herunter fiel sie genau in eine Schulbanklehne und ritt.

Mir hatte sie gesagt, man merkt gar nicht, daß es weh tut. Es ist unheimlich, das ist alles. Dann wird man ohnmächtig. Erna meinte, es müsse schaden. Erna war immer ein Schaf. Ob wirklich Blut kam?

Sandner und Hugo gingen vorbei. „Rasieren!“ rief Hugo. Er sprach von brandroten Haaren an Sandners Händen. „Nero tat es“, sagte Sandner, „ich lasse sie ruhig stehn.“ Sandner sah durchaus nicht her. Olga stand an der Mauer, steif wie ein Stecken, die Arme eingedreht. „Es kam Blut“, flüsterte sie. Die Gasse zischte. Und Olga war interessant. Sandner sah aus, als tue ihm etwas weh.

Als Olga schon heim war, sah ich Sandner am unteren Ende der Schranne. Seine Augen, deren Äpfel mit dumpfem Gelb gefüllt waren, glühten und mit bleichem Lächeln hob er seine Hände in die Höhe seines Mundes, starrte sie an und biß hastig ein rotes Härchen ums andere aus den Gelenken, wobei er leise keuchte.

Pelja sagte später Katastrophe, aber es war alles ganz einfach. Olga war neu. Sandner wollte sie kriegen. Sandner war einzig.

Olga erzählte mir alles haarklein im Bett. Ich wußte, das nahm ein schiefes Ende. Man durfte sich nicht darein mischen. Ich war traurig und stumm. Es ging ganz von selbst.

Ich ging in den Bäckerhof. Die mit den gelben Haaren von der Schutterstraße lief einer Taube nach mit einem so zornigen Gesicht, wie man nicht zornig sein kann über eine Taube. Ich war erstaunt. Ganz hinten, wo es durchgeht zur Brauerei, saß Olga auf je einem Knie von Sandner und Hugo.

Sie hatte die neue geschlossene Hose an mit den Spitzen. Die Spitzen gingen ein bißchen vor wie auf der Fotografie von Tante Luise, die ich nicht leiden kann, weil man nicht das Gesicht anschaut, bloß die Hose. Damals war es Mode.

„Zieh den Rock glatt“, sagte ich zu Olga, „man sieht etwas.“ Olga sagte, es sei unmöglich. Ich wollte nicht sagen Hose. Hugo lachte, Sandner war wütend.

Ich zog das Waschhausbrett ein wenig vor aus dem Schuppen, wo es immer steht, damit Mama nicht vom Fenster herübersieht. Ich dachte, ihr wird nicht recht sein, wenn Olga auf dem Schoß von anderer Leute Kindern sitzt. Olga merkt diese Dinge nie.

Die Große mit den gelben Haaren lief her und sagte, wir dürfen es nicht tun. Olga wußte nicht was. Ich fand es stupid. Sandner wollte das Brett vorne haben. Die Große schrie, ob er den Ring wieder will, ihr ist es gleich. Sandner sagte ja, und sie warf den Ring in den Waschhauskanal.

„Er war nicht echt“, sagte Sandner. Sie sah wie tot aus.

Sandner schaute ihr fest auf den Bauch und bestellte einen Gruß an den Eisenmannmax. „Es wird interessant“, sagte Olga. Die mit den gelben Haaren drehte sich um und ging steif davon.

Sandner wollte das Taschentuch von Olga. Mir war es nicht recht, weil Mama mich immer schimpft für die vielen Taschentücher, die nicht mehr da sind. Sandner machte sich groß und mir tat er leid, denn für Olga war Sandner ja doch Nebensache.

Am anderen Tag kam Sandner Olga schon von weitem entgegen. Er ging genau auf dem Randstein und sah sie nicht an. „Es muß ein Geheimnis bleiben“, sagte er mürrisch und schob es ihr in die Hand. Ihr Taschentuch. Innen lag klein zusammengefaltet ein Brief. Olga war außer sich. Sie sagte, er hat kein Recht. Der Brief war so:

„Hüte dich und traue niemand. Trau auch der Großen nicht, die den Ring in den Kanal warf. Sie ist eine Schlange. Aber ich werde dich beschützen. Sprich nie ein Wort mit einem Mann. Oder ich ziehe meine Hand zurück. Meine Helfershelfer sind zahlreich. Wenn du mich hintergehst, zünde ich dir den Rock an. Zittere vor meiner Rache und komm bald wieder in den Hof zu deinem treuen Willy Sandner.“

Ich dachte, daß es jetzt aus ist. Aber es gefiel mir. Olga gab Sandner eine Ohrfeige. Es war, als habe sie den Mond geschlagen. „Der Brief ist sehr schön geschrieben für einen Knaben“, sagte Sandner. Da wußte ich, er hat recht. Ich sah ihm nach, wie er den Randstein langsam zurückging. Selbst sein Rücken sah aus, als denke er Unerhörtes.

Am Abend war Olga nicht da. Mama wollte, ich soll sie holen. Olga hing an den Klinken des Schultors und starrte an unserem Haus vorbei in die Laterne. Sie sah aus wie gekreuzigt. Was sie sich dabei denkt, fragte ich mich. Erst konnte ich gar nicht laut. Es lief mir kalt durch alle Zähne. Ihr Kopf drehte sich hin und her wie durch eine innere Kraft.

Aber Mama war ganz böse und rief uns. „Mama“, sagte ich, „sei still, dort am Tor war der Heilige Geist da.“ Mama mußte sich setzen und weinte. Wie damals, als Olga die Nadel hatte und ihr sagte, „dich steche ich in deinen Arm“. Wir haben Mama sehr gern.

In der Nacht langte ein Mann zum Fenster herein und schlug mich auf den Kopf, daß es weh tat. Ich sprang aufs Gesimse und konnte den Mann nicht finden. Eine Sternschnuppe fiel grell hinters Schulhaus. Es war meine größte.

Ich beugte mich weit vor und bemerkte, daß unten im Wohnzimmer Licht war. „Pelja ist gekommen“, sagte Olga von drüben. Sie saß aufrecht in ihrem Bett. Ob man uns holen würde? „Nicht in der Nacht“, sagte Olga und fühlte sich schon ganz erwachsen. Sie wischte mit beiden Beinen über den Boden, wobei sie herschielte. Ich hielt mich still wie eine Kerze. Da lief sie schnell her und weinte mir an den Hals, während ich sie in mein Bett hereinzog wie meine große Puppe.

Es war dasselbe wie schon einmal und ganz gewiß eine Sünde. Ich schaute immer geradeaus. „Olga, geh zum Herrn Katechet.“ Aber Olga sagte: „Der Herr Katechet kann auch nicht machen, daß es nicht Sünde ist.“ – „Pelja“, tröstete ich, „hat davon doch gar keine Ahnung.“ Sie hielt mir den Mund zu. „Sprich nichts“, zischte sie, „ich werde es träumen, es träumen.“

Ich hielt sie fest, wir steckten die Zehen zusammen in stummer Verzweiflung, und sie berührten sich noch, als Mama die Decke zurückschob. „Ich habe Pelja vor einer halben Stunde geweckt“, sagte Mama. „Ihr müßt hinübergehn, damit er nicht vergißt, daß er sich anzieht.“ – „Pelja!“ rief Olga. Pelja hatte in Sibirien gelebt, das machte ihn zu einem Wunder. Sein Vater hatte eine Fabrik geleitet in Riga, die Familie war hinterher interniert.

Er saß am Bettrand und hielt den einen Strumpf in der Hand. Die Seife zerweichte in der Schüssel. „Sagt doch Ernst und nicht Pelja“, bat er und drehte die Augen her mit den fließend schwarzen Sternen. Dann stand er auf und küßte Olga die Hand, denn so machte mans drüben. Drüben war Rußland, von dem er beibehielt, was ihm gefiel. Pelja gefiel ihm nicht, Pelja heißen Kinder.

Wir stellten uns hin und paßten auf, daß er sich anzog. Er konnte aufhören mittendrin, ganz in sein Denken versunken. „Pelja!“ riefen wir dann. Er vergaß immer alles. Zum Frühstück kam er oft erst nach Stunden.

Einmal sah ich ihm zu. Er stand mit nackten Füßen, die Hände im Wasser, wohl eine Stunde und horchte in sich hinein, wobei süße Ruhe in seinen Wangen schwebte. Seine Lippen lagen dumpf aufeinander, als ob sie schliefen. Wenn man ihn anrief, fuhr er in seiner Beschäftigung fort und war nicht einmal erschrocken.

Olga erzählte es ihm von Sandner. Pelja behauptete, daß er ihm das nicht verdenkt. „Aber nicht wahr, er muß es büßen?“ fragte Olga mit blutigen Lippen. „Man wird nicht auf die Gasse gehn und sich unter die Kinder mischen“, sagte Pelja, „wenn man einmal darüber hinaus ist. Man muß siegen, indem man sich fernhält.“ Er drehte die Hüfte ein wenig, die ganz verboten schlank war. „Du hast aufregende Beine, Olga.“ Er ging durch die Tür. Olga erbleichte. Ihre Nase stand regungslos in der Luft wie bei einem Hund.

Dann kam ein Kind, das wir nicht kannten, und richtete aus, daß Olga auf die Straße soll. Ich ging mit ihr hinunter. Vorn bei der Jesuitenkaserne wartete ein Trupp Kinder, auf den gingen wir zu.

Sobald Sandner uns sah, stellte er sich vor die anderen und verschränkte herausfordernd die Arme. Olga verschränkte auch gleich die Arme. Wie die Häuptlinge standen sie da. Alle Kinder hinter ihm starrten sie an.

Beide gingen in ganz gleicher Haltung aufeinander zu. „Das Kriegsbeil ist ausgegraben“, erklärte der Knabe finster. Er verlangte, daß man Olga bestraft, weil sie einen Bürger geschlagen hat ohne triftigen Grund. Ich sage, er soll am Pfarrhaus nicht so schrein. Olga versprach, wenn er nachts zehn Uhr an die Schwarze Brücke kommt, wird sie draußen sein und ihm etwas geben. Er wurde feuerrot, und ich mußte mich wundern. Aber Olga ging dann nicht hin, es war nie ihre Absicht. Sie hatte sich über ihn lustig gemacht. Und ich hatte Angst und horchte den ganzen Abend zum Fenster hinaus.

Pelja lag auf dem Diwan und rief: „Dumpf brüllte das Nebelho-orn“ jedesmal mit anderer Stimme. Er sagte, so muß er wenigstens nicht denken. Er tat es lang. Es war wie ein Lied.

Seine Tür war offen. Olga saß auf dem Fensterbrett. Ich stand schon im Nachthemd. Pelja schaute zu Olga herüber und sagte nichts mehr. Auf einmal sagte Olga ganz hoch, wie man es gar nicht gewohnt ist, „Pelja, ich werde dich beißen“. Seine Augen gingen weit auf. Ich spürte mein Nachthemd in kleinen Falten. Pelja drehte sich um und zog sich in sich zusammen. Und Olga saß da auf dem Brett. Es war furchtbar peinlich. Aber nachher kam Pelja herüber und tat zum erstenmal, als sei Olga richtig erwachsen.

Ich hörte an der Mauer ein Kratzen. Der Mann von der Nacht fiel mir ein. Ich mußte durchaus nach dem Fenster. Da sah man Sandner hängen wie eine Fledermaus. Es war das falsche Fenster. Er richtete das Gesicht nach mir

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Fortsetzung

und es war, als ob er sich ärgert. „Sage ihr“, flüsterte er, „sie ist schuld, daß die mit den gelben Haaren ins Wasser ging.“ In lautlosem Haß hing er da. Das Sternenlicht zuckte über sein Gesicht. „Aber an die Schwarze Brücke komme ich jeden Abend.“ Dann glitt er ins Dunkel. Ich konnte mir nicht denken, wo man sich mit den Zehen eingräbt in unsere Mauer.

„Olga“, sagte ich, „ohne dich wäre die mit den gelben Haaren nicht ins Wasser gegangen.“ Olga glaubte es nicht. Am anderen Tag erzählte es schon die Köchin. Aber Pelja machte mir klar, damit hat Olga überhaupt nichts zu tun.

Olga benahm sich wie ein Huhn. Sie ließ sich andichten von Pelja. „Es sei ein Seelenrausch“, sagte er. Die Köchin nannte es dummes Zeug, wie ich von Sandner redete und dieser Gelben. Die Gelbe habe es mit einem Großen gehabt. Und man wisse es ganz genau, sie bekam ein Kind.

Sandner ließ Olga sagen, sie darf nicht mit Margret schaukeln. Margret war ihr Schützling. Olga lief gleich hinunter und setzte sich mit Margret auf den kleinen Leiterwagen, mit dem man wippt. Mama mochte es nicht. Es gab immer Wagenschmiere in die Kleider. „Margret, paß auf“, sagte Olga, „wenn Sandner kommt, tun wir, als sei er Luft.“ Margret kam mir anders vor als sonst, ein wenig verstockt.

Dann kamen die Buben um die Ecke. Es war eine Gemeinheit von Sandner. „Sags!“ hetzte er und Hugo: „Sags nicht!“ Sie vertraten Olga den Weg, daß sie nicht fortkam. Und „Sags nicht! Sags!“ Einer rief immer das Gegenteil vom anderen. Das war Taktik, am Ende war es keiner gewesen.

Margret fing an zu brüllen: „Wenn du mir das nicht sagst, bin ich nicht deine Freundin.“ Margret wußte nämlich noch nicht, wo die kleinen Kinder herkommen. Aber Olga sagte es ihr nicht. Margret war mit Olga auf ewig verkracht. Sandner nahm Margret mit in den Schuppen und hob ihr den Rock auf.

Olga fragte Pelja: „Was kann man so einem antun?“ Pelja wußte nur, wie man in Rußland die Bauern gemartert hatte, aber das war nichts für heut, Pelja erzählt so, als sei er dabei gewesen. „Du siehst so indianisch aus“, sagte Pelja und blies Olga auf den Hals. Das lenkte sie wieder ab.

Am anderen Tag überlegten wir, ob man hinging. Ein Wettkampf mit Speeren war angesagt zwischen Sandner und Hugo. „Das ist so ein Knabe, der sich aufspielen muß“, meinte Pelja. Ich verstand, er wollte nicht weniger sein, er hatte keine Schulen wie wir.

Sie nannten es Speere und nahmen Nadeln dafür. Olga wollte nicht hingehn zur Strafe. Nachher wurde so nichts draus. Es hieß, Sandner habe seine Nadel vergiftet, da wollte Hugo nicht mehr. Es konnte wahr sein oder nicht.

Die Kinder machten einen Bogen um Sandner. Dann ging es auf einmal sehr schnell. Erna schrie: „Jetzt macht er ihn tot!“ und alle liefen in die Brauerei bis zum Heizraum, wo Margrets Vater Sandner mit dem Kopf an das Feuerloch stieß. Der Mann schlug ihn auf die Backen und brüllte, er werde ihn hineinfeuern lebendigen Leibs, wenn er sich nochmal auf seinem Hof blicken läßt. Margret war eben naiv.

Sandner stolperte heraus, käsbleich, das Haar versengt. Er schwur, er wird schon der Frau das seidene Kleid aufschlitzen. Olga ging ihm nach in sein Haus und fragte ihn, warum seine Backe so rot ist. Der Schankraum war leer. Sandner stürzte sich auf sie mit einer Schere und schnitt sie ins Haar, wobei er schluchzte.

Es würgte ihn plötzlich, Sandner übergab sich zum Fenster hinaus. In die Wirtschaft hinein durfte er sich nicht übergeben. Sandner hatte eine Gehirnerschütterung davongetragen, damit durfte er sich daheim nicht verraten.

Olga legte die Schere wieder auf den Sims, wo sie zuerst war, lief zum Friseur und ließ sich die Haare stutzen. Mama war außer sich, weil Olga nicht fragte, bevor sie sich die Haare abschneiden ließ. Pelja sagte „mein schöner Knabe“ und Olga war nachdenklich.

Die Köchin erzählte Mama, Sandner hat Margret verführt, ist von ihrem Vater halb verbrannt worden und hat aus Rache ihrer Mutter Sonntagskleid zerschnitten. Die Polizei ist hinter ihm her, aber man findet ihn nirgends. Wir horchten auf. Mama zankte die Köchin, weil sie das vor den Kindern erzählt.

„Er hat doch etwas von einem Menschen“, sagte Olga. Sandner hatte nie einen Vater, nur eine Mutter, die barsch war. In der verlassenen Wirtschaft ging Olga ein Licht auf.

Wir machten aus, daß wir an diesem Abend, Pelja, Olga und ich, an die Schwarze Brücke gingen. Sie ist ziemlich weit weg von der Stadt, wir mußten zeitig fortgehn. Auf der Straße sagte man uns, daß man Margret sucht.

Wir nahmen den Umweg quer über den Damm, denn durch die Schütt ist es nicht ganz geheuer. Wir hielten uns an der Hand. Es war fast kalt. „Il fait la lune rousse“, sagte Pelja. Ich weiß nicht, wie er es meinte. Aber Olga sah zu ihm auf mit glänzenden Augen.

Kleine Lachen blinkten auf. Die Weiden staken um uns herum mit ihren Stümpfen. Der Mond drehte sich durch die Bäume wie ein Idiot. Dann hörten wir Margret weinen. Sie lagen beide quer über den Damm. Er schlug sie, als hätte er überhaupt keinen Ausweg. Olga wollte nicht, daß wir ihn störten. Aber er hatte uns gehört, setzte sich auf und blickte her wie ein gestelltes Tier.

Also gingen wir hin. Olga sagte, sie müsse wissen, ob er ihre Haare nicht hat liegen lassen, das könne nämlich nicht gut sein. Sandner flüsterte, er hat sie in seiner Tasche. Er konnte zuerst gar nicht laut. Und wieder empfand ich, als seien wir gegen ihn im Unrecht. Er rannte an gegen eine Kluft.

Er saß erschöpft auf seinen Knien, die Hände hatte er flach am Boden liegen. Olga zeigte auf Pelja: „Er sagt, er wird mein Mann, wenn wir groß sind.“ Sandners Mund fiel entzwei. Er lächelte eigentümlich, dann klappte sein Kiefer zu und er konnte sprechen. „Es ist gleich“, sagte er mürrisch. „Wenn du nur so tust, wie ich will.“ – „Das werde ich nicht tun“, sagte Olga. Wir übersahen ganz, wie Margret dalag mit verdrehten Augen, in deren Äpfeln der Himmel schwamm wie in Milch.

„Euer Haus kann man anzünden“, drohte Sandner. „Von hinten her geht es, man kann über die Altane.“ Olga sagte, Damen täten es wirklich nicht. Sandner sagte, er weiß ein Spiel, wo man sich aufhängt und steht dabei auf einem Stuhl. Dabei kann man sterben. Wenn man den Stuhl umstößt, ist man hin. Wenn er sie erpressen will, sagte Olga, damit jagt er ihr keine Angst ein.

Pelja klopfte ihm auf die Schulter, nannte ihn „junger Mann“ und gab eine Zigarette. Dann sagte er, „bei uns in Rußland“ und Sandner war still. Ich merkte, daß er sich für Sandner interessiert. Pelja sprach über „die Frau“. Sie darf von Anfang an nicht gefragt werden. Wer fragt, ist schon verloren. Olga machte ein hohes Gesicht. Pelja benahm sich verrückt. Pelja sang: „Ich wandle durch den Abend wie ein steiler Elefant.“ Ich hätte es nicht gesagt. Schon weil wir saßen.

„Alles Krampf!“ entschied Sandner und wollte noch eine Zigarette. Er schob sich zu Olga hin, die er fixierte. „Seit wann gehst du mit dem Heini?“ – „Mein Cousin!“ rief Olga. „Heißt das bei dir Cousin?“ fragte Sandner, da war nichts zu machen. „Ihr haltet alle zusammen.“ Sandner machte eine Miene, als sei er ihrer auf einmal müde. „Er riecht auch nur besser, weil er sich anspritzt mit Kölnisch“, sagte er und stand auf. Pelja war beleidigt.

„Die Haare habe ich ja“, sagte Sandner verdrossen. Er kratzte sich mit den Zehen ein bißchen am Bein, dann lief er schnell weg. Er schaute nicht um. Noch sein Rücken war mir unheimlich, obwohl er lief. Margret mußten wir halb tragen, sie schleifte die Füße nach und wollte nie wieder heim. Wir konnten sie nicht dort lassen, wenn es das war, was sie meinte.

Man fand ihn auf dem Speicher, einen Büschel Haare in seiner Faust. Der Stuhl lag umgestoßen unter seinen Füßen. Er hatte sein Spiel zu Ende gespielt und er hatte es Olga gezeigt. Damit war er allen voraus. Andere konnten nichts tun. Andere konnten ihn höchstens vergessen.

Mama war gleich nervös, was mit ihm war. Mama darf man die Dinge nicht sagen, Mama muß man schonen. Pelja sagte, der Stuhl ist umgefallen durch einen dummen Zufall. Olga hatte Angst, daß jemand merkt, die Haare sind von ihr.

Ich habe es bis jetzt nicht gesagt, sie haben ihn zum Leben erweckt. Wir wollten uns nicht mehr kennen. Sein Weg lief noch weit von uns fort. Später wurde aus ihm ein SA-Mann.

„Die Dreizehnjährigen“ aus:

Marieluise Fleißer, „Gesammelte Werke“ (Suhrkamp-Taschenbuch, 4 Bände, 78 DM). Abdruck der Erzählung mit freundlicher

Genehmigung des Suhrkamp Verlages.