Vom Geheimdienst-Auflöser zum Klomann in der Disco

Die wechselhafte Karriere von John Bok, einem Freund des tschechischen Präsidenten Václav Havel. Er empfängt in der Pachttoilette „Establishment“  ■ Aus Prag Wolfgang Gast

Voll wird es im Club „Radastor FX“ erst am Wochenende. Dann aber, zu später Stunde, richtig. Im Café zu ebener Erde drängeln sich die älteren Semester gemütlich um die Theke, in der Disco im Keller wird zur gleichen Zeit die Luft schon stickig. Eine Nebelmaschine treibt Schwaden über die Tanzfläche; die meist jugendlichen BesucherInnen, scheint es, kommen ganz auf ihre Kosten. In Kellerecken werden vereinzelt Joints gedreht, die meisten halten sich aber an ihren Bierflaschen fest. Keinen Kilometer vom Prager Wenzelsplatz entfernt, ist der Umsatz an Alkohol gewaltig.

Wer, wie die meisten der hier anwesenden Männer, kräftig an den Flaschen nuckelt, wird irgendwann in der Nacht noch Besucher und Kunde bei John Bok. In der Disco, groß wie ein Basketballfeld, betreibt der 49jährige an der Treppe zwischen Keller und Erdgeschoß eine Pachttoilette. Eintritt: zwei tschechische Kronen, umgerechnet keine 20 Pfennige für den Einlaß in das schwarz-weiß gekachelte Kabuff. Alle halbe Stunde schließt John für einen Moment sein kleines Reich und bringt mit Mop und Tuch den Pott auf Vordermann.

Sein „Establishment“, verkündet John, das ist das sauberste seiner Art in der Stadt. Bok, mit Stirnglatze, Vollbart, Pferdeschwanz und Nickelbrille, muß bei dem Wort „Establishment“ lachen. So wie die DDR-Bevölkerung die Staatssicherheit als „Firma“ und als „VEB Guck & Horch“ verhöhnte, so fand die Bevölkerung in der früheren Tschechoslowakei für den hiesigen Geheimdienst „StB“ das Wort „Establishment“. Und mit diesem Verein machte der Klo- Betreiber Bok umfangreiche Erfahrungen – erst als dessen Opfer, nach der Wende als dessen Auflöser und schließlich wieder als Opfer.

Bis zu seiner Entlassung im Mai 1991 war der Bürgerrechtler Hauptabteilungsleiter im tschechischen Geheimdienst. Aus der Abteilung, die in Vorwendezeiten für die Bespitzelung des politischen Untergrundes und der Dissidenten-Szene zuständig war, sollte er eine rechtsstaatliche Verfassungsschutzbehörde aufbauen helfen. Zusammen mit Mitstreitern aus der Bürgerrechtsbewegung entwickelte er dafür neue Konzepte und Arbeitsmethoden. Zuständig war er für die Suche, Ausbildung und das Training der neuen Mitarbeiter. Wer eine Dienstwaffe beanspruchte, der mußte bei Bok dafür eine Genehmigung einholen. Unter seiner Regie wurden die meisten der StB-Spitzenfunktionäre aus ihren Ämtern entfernt. Die Aufgabe übernahm er, weil ihn sein Freund Václav Havel, der heutige Präsident der Tschechischen Republik, darum gebeten hatte.

Die Pachttoilette im „Radastor“ ist nicht nur Anlaufpunkt für die üblichen Besucher des Clubs – wer den Rat des Bürgerrechtlers hören oder mit ihm diskutieren will, der muß sich schon dorthin begeben. Beinahe jede der in Prag erscheinenden Zeitungen hat schon einen Bericht über dieses stille Örtchen veröffentlicht, über die prominenten Besucher, die der frühere Dissident dort empfängt: Politiker, Künstler, seine Freunde.

In dieser Samstagnacht hat sich ein New Yorker Journalist angekündigt. Er wird von einem Kameramann begleitet, der die Arbeit des schreibenden Kollegen für das amerikanische öffentliche Fernsehen dokumentieren soll. Es wird eng auf der Toilette, das Interview muß immer wieder unterbrochen werden, wenn einer verschämt an den Versammelten vorbei an die Pißbecken will. Beim Herausgehen stets das gleiche: „Zwei Kronen bitte.“

Bok erzählt, wie er alles daransetzte, die belasteten StB-Funktionäre aus seinem Arbeitsbereich, der dem Innenministerium unterstellt war, zu entfernen. Unter anderem traf er beim Geheimdienst den Mann wieder, der ihn Jahre früher verhaftet hatte. Rückblickend wurde ihm klar: „Die wußten alles, was ich in meinen Leben gemacht hatte.“ Schnell stellte sich heraus, wie eng die Struktur der tschechoslowakischen Staatssicherheit mit der des sowjetischen Geheimdienstes KGB verflochten war. Bok, der die KGB-Anbindung gründlich aushebeln wollte, holte sich Experten – über die amerikanische Botschaft forderte er Hilfe bei der CIA an. „Wer hätte das besser machen können“, sagt er, „als deren größte Feinde?“ Die Fachleute aus den Staaten kamen schließlich im November 1990. Fachleute, so Bok, die ihnen die benötigten Informationen über den StB vermitteln konnten. Gefragt war auch deren Wissen darüber, mit welcher gesetzlichen Grundlage der gerade neu gebildete föderale Verfassungsschutz einer parlamentarischen Kontrolle unterworfen werden könnte. Konservative Leute seien das gewesen, die beim Anblick des ersten McDonald's-Fast-food-Restaurants auf dem Wenzelsplatz geäußert hätten: „Laßt die nicht in euer Land, die machen euch eure Eßkultur kaputt.“

Ende 1990 waren die meisten der belasteten Funktionsträger aus dem Verfassungsschutz entfernt. Doch dann setzte ein ganz anderer Prozeß ein: Bürgerrechtler um Bügerrechtler mußte den Dienst verlassen.

Es handelte sich, wie ein Freund Boks, der heutige Bauunternehmer Jaroslaw Bašta, bestätigt, um die Auseinandersetzung zweier informeller Gruppen. Diejenigen, die immer wieder den konsequenten Umbau der Geheimdienste einklagten, gerieten zunehmend unter Druck. Anders als in den anderen Staaten des früheren Ostblocks gab es in der Tschechoslowakei eine Elite, die die Arbeit der Nachrichtendienste nahezu aus dem Stand übernehmen konnte. Es waren die früheren Mitarbeiter der Staatssicherheit, die 1968 nach der blutigen Niederschlagung des Prager Frühlings aus den Ämtern gefeuert worden waren.

Der StB wurde zwar, wie erwartet, aufgelöst und in verschiedene Dienste aufgeteilt. Weil die Reformbemühungen aber auf halbem Wege steckenblieben, „hat sich nicht allzu viel verändert“. Nach wie vor, sagt Bašta, der heute der Vorsitzende der Arbeitsgruppe Sicherheit der sozialdemokratischen Partei ist, gelten für die einzelnen Teilbereiche des Geheimdienstes über weite Strecken die alten Vorschriften. Und dort, wo sie durch neue ersetzt wurden, entsprächen die inhaltlich den alten Direktiven. Nach dem Ausscheiden der Bürgerrechtler hätten die alten Mitarbeiter des StB wieder Wege zurück in Amt und Würden gefunden. Das dürfe auch keinen verwundern, hätte beispielsweise in der Spitze des zuständigen Innenministeriums gerade einmal jeder zehnte einen abgeschlossene Hochschulausbildung. Die Spitze des Ministeriums – Spielball für die geschulten früheren StB-Leute.

Geändert hat sich offenbar auch nicht der Umgang mit den Akten, die vor der Wende vom StB angelegt wurden. Frei zugänglich sind die Unterlagen auch heute noch für die operativen Einheiten der Nachrichtendienste, den militärischen Geheimdienst und auch für die Polizei. Eine Öffnung der Stasi- Archive für die Überwachten und Ausgespähten ließ sich dagegen bisher gegen die Koalition aus früheren Kommunisten und den bürgerlichen Rechtsparteien ODS und ODA im Parlament nicht durchsetzen. Zwar hatte die Regierung einen Gesetzentwurf vorgelegt, der in den Eckpunkten den Bestimmungen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes der Bundesrepublik entsprach – die Kerninhalte des Entwurfs wurden in einer zweitägigen Parlamentsdebatte aber gründlich ins Gegenteil gekehrt. Zugang zu Unterlagen, erklärt Bašta, haben auch heute nur die Institutionen, die bereits vor 1989 Zugriff hatten, beziehungsweise deren Rechtsnachfolger. So gebe auch heute wieder das Innenministerium bekannt, ob einer für den Geheimdienst gearbeitet hat oder nicht. Und ohne daß die Auskunft überprüft werden könne.

Ähnlich wie Bok wurde auch Bašta wegen eine Formalie aus dem Amt gejagt. Als Dissident wurde der gelernte Archäologe nach dem Prager Frühling für zweieinhalb Jahre inhaftiert. Anschließend arbeitete er beim Brückenbau, zuletzt als Montageleiter. Für kurze Zeit leitete er nach der Wende ein Museum, im Mai 1990 kam er schließlich zum föderalen Innenministerium, in die Abteilung Verfassungsschutz. Dort machte er Karriere. Aus dem Amt geworfen wurde er im September 1991. Damals war er Arbeitsdirektor der Verfassungsschutzbehörde. Zum Verhängnis wurde ihm seine Kritik an der Tätigkeit und Struktur seiner Behörde. Nachdem er sich amtsintern nicht behaupten konnte, wandte er sich direkt an Präsident Václav Havel, um den weiteren Umbau des Dienstes durchzusetzen. Ergebnis: Er wurde sofort gefeuert. Offizielle Begründung: Er habe den amtierenden Leiter des Verfassungsschutzes übergangen, er hätte vor einer Audienz bei Havel dessen Genehmigung einholen müssen.

John Bok hatte nur vier Monate zuvor im Mai die Koffer packen müssen. Er wurde geschaßt, sagt er, weil er einen der Stellvertreter des Innenministers als früheren Geheimdienstmann entarnt hatte. „Sie hatten mich dann auf dem Kieker.“ Wie wütend er damals gewesen sein muß, läßt sich allenfalls erahnen. Noch heute, inmitten des Trubels der Disco, entfährt ihm zornig: „Sollen sie doch alle zur Hölle fahren!“

Gerichtliche Verfahren gegen frühere StB-Mitarbeiter stehen nicht auf der Tagesordnung. Die in englischer Sprache erscheinende Wochenzeitung Prognosis listete anläßlich des viertes Jahrestages der Revolution Ende November die Zahl der Urteile auf. Es wurden elf Zeilen: „Am 30. Oktober 1992 verurteilte ein Militärgericht den früheren StB-Direktor Alojz Lorenc (vier Jahre), den früheren Chef der Gegenspionage, Karel Vykypel (drei Jahre), und den früheren Innenminister František Kincl (dreieinhalb Jahre) wegen der Verletzung der verfassungsmäßig garantierten Bürgerrechte.“

Die Nacht nähert sich dem Ende, Bok und seine Besucher sind längst bei Fragen der Gegenwart angelangt. Die Regierung hat einen Gesetzentwurf verabschiedet, wonach es künftig möglich sein soll, abfällige Äußerungen über den Staat und seine Organe als Staatsverleumdung zu verfolgen. Bok ist empört und sauer auf seinen Freund Havel: Dieser habe ihm mitgeteilt, er werde das Gesetz unterschreiben. Zwar hält auch der Präsident das kommende Gesetz für verfassungswidrig, doch sollten darüber die Verfassungsrichter entscheiden. Mit der Verweigerung seiner Unterschrift wolle er andere Gesetzgebungsverfahren nicht gefährden, die mit der strittigen Regelung in ein ganzes Paket von Gesetzesänderungen verschnürt sind.

Diese Argumentation läßt Bok nicht gelten, Er mißt gerade diesem Gesetz einen hohen symbolischen Gehalt zu, wird doch damit eine Regelung wieder in Kraft gesetzt, mit der in Vorwendezeiten die RegimekritikerInnen verfolgt wurden. Daran halten will er sich schon gar nicht. Schon als er 1988 über die italienische Radikale Partei das erste „freie“ Faxgerät organisieren konnte, wäre ihm im Traum nicht eingefallen, eine Genehmigung einzuholen. „Ich ging ins nächste Postamt“, erinnert er sich, „ich habe es einfach angeschlossen.“ Dann widmet er sich wieder der Pachttoilette. Noch Fragen? Morgen wieder.