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Hoechst dreht Pillen auswärts

Chemiegigant will Produktion von Arzneimitteln nach Italien und Frankreich verlagern / Widerstand gegen Jobverlust in Höchst  ■ Von K.-P. Klingelschmitt

Frankfurt/Main (taz) – Weil sich auch bei der Hoechst AG die Gewinnmargen nicht mehr problemlos aus der weltweiten Vermarktung der gesamten Produktpalette destillieren lassen und zu Hause der Kostendruck steigt, plant der Konzern ein europaweites Produktionsstätten-Revirement. Hoechst will seine Antibiotika und alle Pillen, Dragees und Kapseln demnächst statt im Stammwerk im Frankfurter Stadtteil Höchst in Frankreich und in Italien herstellen – in Zusammenarbeit mit der größten europäischen Tochter, der französischen Roussel Uclaf.

Bei Roussel Uclaf in Compiegne und L-Aigle (Frankreich) und am italienischen Produktionsstandort des Chemiegiganten in Scoppito könne die aus dem deutschen Stammwerk zu verlagernde Produktion fester Arzneimittel ohne zusätzliche Arbeitskräfte mitbewältigt werden, sagte ein Firmensprecher in Frankfurt/Main. Die Pharmasparte steht für knapp ein Viertel des Konzernumsatzes von etwa 45 Milliarden Mark. Das inländische Geschäft mit Pillen und Tinkturen hatte im vergangenen Jahr heftig unter der Seehoferschen Gesundheitsreform gelitten und erhebliche Umsatzeinbußen hinnehmen müssen.

Beim (noch) größten Arbeitgeber auf hessischem Boden würden dann im Stammwerk 240 (Hoechst AG) bis 2.300 (Betriebsratsliste) Arbeitsplätze obsolet werden. Insbesondere die in Opposition zur IG Chemie stehende Betriebsratsliste „Standort Höchst“ befürchtet einen Ausstieg der Hoechst AG aus der gesamten Pharmaproduktion.

Noch sollen die in Frankreich und Italien herzustellenden Arzneimittel bei Hoechst in Höchst weiter verpackt werden. Doch langfristig, so die Prognose der Initiatoren der Betriebsratsliste, Edmund Fuchs und Julius Worgull, sei auch mit dem vollständigen Abbau der Arbeitsplätze in der Verpackungsabteilung zu rechnen: „Anders als bei den bisherigen Umstrukturierungsmaßnahmen, die mehr oder weniger mit dem Einverständnis des Betriebsrates durchgeführt wurden, bahnt sich deshalb diesmal ein tiefgreifender Interessenkonflikt an.“

Nach einer außerordentlichen Abteilungsversammlung, auf der auch den IG-Chemie-Betriebsräten Arnold Weber und Ewald Grom „schwer zugesetzt“ worden sei, weil sie sich nicht konsequent genug für den Erhalt der Arbeitsplätze eingesetzt hätten, hoben die von der Entlassung bedrohten Werktätigen aus der Pharmaabteilung die Oppositionsliste „Standort Höchst“ aus der Taufe. Mit ihrer Liste wollen unabhängige Kandidaten und Mitglieder der IG Chemie zu den Betriebsratswahlen im März in Konkurrenz zur Liste der IG Chemie zum Kampf um die Stimmen aller Beschäftigten im Stammwerk der Hoechst AG antreten.

Nach Angaben von Fuchs und Worgull („Standort Höchst“) seien bereits mehrere Kandidaten von der IG-Chemie-Liste zur neuen Liste gewechselt. Das erste Ziel der Liste „Standort Höchst“: „Die IG-Chemie-Betriebsräte aus der Lethargie und Sattheit der fetten Jahre führen.“

Daß die fetten Jahre für die Hoechst AG vorbei sind, mußte Konzernchef Wolfgang Hilger schon auf der letzten Hauptversammlung konstatieren. Aufgeschreckt von der rührigen Pressearbeit der Liste „Standort Höchst“ sah sich die Konzernleitung vorgestern genötigt, zu erklären, daß die angeblich „nur“ 240 Arbeitsplätze im Stammwerk „sozial verträglich“ abgebaut werden sollen. Die von der Liste genannte Zahl von 2.300 beziehe sich auf geplante Abbaumaßnahmen des Konzerns in ganz Europa. Kontinentweit „verschlankt“ werde nicht nur der Bereich Pharmaproduktion. Auch bei der Herstellung von Fasern werde es zur „Freisetzung“ von Arbeitskräften kommen (müssen). Der Hoechst-Konzern beschäftigt weltweit rund 170.000 Menschen.

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