"Orwellsche" Arbeitsplätze

■ Bonner Ministerien und ihre Berliner Außenstelle testen Multimedia-Arbeitsplätze / Das Projekt "Bravo" soll für einen direkten Informationsfluß sorgen

„Kommen Sie mal auf meinen Schreibtisch“, fordert Ingeborg Ludewigs ihren Arbeitskollegen Uwe Lisofsky auf. Der läßt sich nicht lange bitten. Seit einigen Monaten schon kommt Lisofsky jeden Vormittag für eine knappe halbe Stunde ins Büro seiner charmanten Kollegin.

Um Mißverständnissen gleich vorzubeugen: Ludewigs Arbeitsplatz ist beim Presse- und Informationsamt in Bonn und der ihres Kollegen Lisofsky in der Berliner Außenstelle. Seit Oktober letzten Jahres sind ihre „Orwellschen Arbeitsplätze“ (Ludewigs) mit dem Multimedia-Büroarbeitsplatzsystem „Office Broadband Communication“ (OBC) ausgestattet. Das ermöglicht ihnen neben einer Audio,- Video- und Datenkommunikation einen direkten Datentransfer, auch ohne gleichzeitige Videokonferenz. Der Superarbeitsplatz überträgt nicht nur Daten, sondern macht auch den Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung in Farbe sichtbar.

Nach einer „Vorwarnung“ schaltet sich die Personenkamera ein. „Nach einer Weile verliert man die Scheu“, versichert Ludewigs und kratzt sich an der Nase. Für die Bonner Referatsleiterin ist das Sehen des Gesprächspartners eine „Kommunikationsverbesserung“ und „kein technischer Eingriff in die Privatsphäre“. Außer dem braunen Rollkragenpullover seiner Bonner Kollegin und einer grünen Spitzmaschine kann Lisofsky auch die Papiere auf ihrem Schreibtisch sehen. Dokumentenkameras übertragen Schriften über 600 Kilometer Entfernung. Das heißt, Ludewigs und Lisofsky können gleichzeitig an dem neuen Deckblatt für den täglich erscheinenden Pressespiegel arbeiten, als säßen sie im gleichen Büro – aber nur einer von ihnen kann die Maus betätigen.

Das Presse- und Informationsamt ist eins von sechs Ministerien, das an dem dreijährigen Modellprojekt „Bravo“ (Breitbandanwendungen in verteilten Organisationen) teilnimmt. Das Bundesministerium für Post und Telekommunikation, das Bundeskanzleramt, das Bundespresseamt und die Treuhand waren die ersten, die an das von der Telekom in Auftrag gegebene Multimediasystem angeschlossen wurden. Bis zum Projektende im Dezember 1994 stellt die Telekom die Breitbandanschlüsse für zwei Stunden täglich gebührenfrei zur Verfügung und übernimmt die Kosten in Höhe von 600 Mark für eine Stunde.

„Indirekt hat Bravo schon auch mit dem Regierungsumzug zu tun“, erklärt Projektleiter Matthias Käding. „Bravo“ soll für einen unmittelbaren Informationsfluß zwischen den Bonner Ministerien und ihren Berliner Außenstellen sorgen. Die Treuhand kann Videokonferenzen mit bis zu drei Teilnehmern des Bundesministeriums für Finanzen (BMF) abhalten, das Bundeskanzleramt wiederum mit dem BMF oder der Treuhand. Außerdem können Texte oder Grafikentwürfe gemeinsam abgestimmt und geändert werden. Auch bewegte Bilder aus dem Bundestag können bereits über das OBC-System nach Berlin übertragen werden. Die Bonner dagegen müssen sich noch etwas gedulden, bis sie Bilder aus dem Reichstag empfangen können.

Die Zeitungsartikel für den täglichen Pressespiegel, die in Berlin mit der Schere ausgeschnitten, aufgeklebt und kopiert werden, werden innerhalb weniger Sekunden nach Bonn gescannt, elektronisch übertragen und können dort ausgedruckt werden. Das spart nicht nur Zeit. Auch die Qualität ist „weitaus besser als per Fax“, so Lisofsky. Ludewigs und ihr Kollege können „in die Artikel hineingehen“ und sie „in ganzer Schönheit verarbeiten“, schwärmt die studierte Germanistin. Aus vierspaltigen Artikeln können wegen der besseren Optik Dreispalter gemacht werden, die Schrift kann vergrößert oder verkleinert werden. Auch einzelne Sätze können aus dem Text herausgeholt werden. Zur Beruhigung: In einen erschienenen Artikel kann nichts eingefügt werden. Barbara Bollwahn