Emma ist überall

Anmerkungen zum wahnwitzigen Tempo im Sport, dem jetzt die Abfahrtsläuferin Ulrike Maier zum Opfer fiel / Der moderne Leistungssport und seine Gier nach der Tausendstel  ■ Von Bernd Müllender

Berlin (taz) – „Abschuß und Einschlag im gleichen Moment – das wollen die Leute sehen.“ Vom Fußballspieler Lothar „Emma“ Emmerich, Star der Dortmunder Borussia in den sechziger Jahren und eigentlich ein eher schlichtes Gemüt, stammt diese geniale Zauberformel für den Torschuß. Emma thematisiert den theoretischen Idealfall: So schnell und hart schießen, daß dem Gegner, insbesondere dem Torwart, keine Reaktionszeit bleibt. Genaugenommen postuliert der Balltreter sogar die Aufhebung der Physik: Die Überwindung eines bestimmten Stückes Weg – vom Ort des gefüßelten Leders bis zum Überschreiten der Torlinie – in der Zeit Null. Geschwindigkeit: unendlich schnell. Beschleunigung: total. Keinem Emma ist, der Schwerkraft sei Dank, solches jemals gelungen. Aber die gesamte Welt des Sports giert danach: immer besser, fester, rekordhafter. Je schneller, desto gut. Emmas Dogma als unausgesprochenes Endziel – wobei allerdings die Leute nicht mehr viel zu sehen bekämen, weil es doch etwas zu schnell ginge. Höher, schneller, weiter – die große alte Sport-Leistungsmaxime. Was wäre der Sport, wenn es keine Bestleistungen gäbe? Nichts. Jedenfalls der heutige Sport in seiner Rekordgier und Medienverbreitung.

Rekorde sind publikumswirksam. Sie sorgen für Zuschauerinteresse, Einschaltquoten und die schnelle Mark. Und alle wollen Schnelligkeit: Der Fußballtrainer, der sich in jedem Spiel ein frühes Tor wünscht. Und für die ganze Saison einen guten Start mit vielen schnellen Siegen – dann wird es schon ein gutes Ende nehmen. Völlig aussagelose Daten werden aufwendig von den Privatsendern mit Lichtschrankenanlagen gemessen – etwa wer beim Fußball dem Wunschtraum des guten alten Emma am nächsten kommt: Der Spieler mit dem härtesten Schuß. Immer neue Kategorien entspringen Reporters Phantasie, wenn der Kick als solcher nichts mehr hergibt: Der Einwechselspieler, der am schnellsten in der Saison einen Torerfolg schafft. Derjenige, der als erster (pro Spieltag, saisonweit, pro Verein) das schnellste Tor erzielt. Etc. etc. Die Fixierung auf Rekorde und Tempo macht den Sport erschreckend eindimensional. Relative Leistungen, seien sie noch so bemerkenswert, gehen unter. Daten, die einfach zu spät kommen, nur weil irgendwo irgendwann ein anderer schon da war und besser, sind bedeutungslos. – Die Sportjournalistik in den (allermeisten) Printmedien spiegelt solche Anspruchslosigkeit erbarmungslos wieder. Es ist bedauerlich, daß es fast ausschließlich zwei Sorten von Zeitungslesern gibt: Die mit dem Sportteil beginnen und ihn meist kritiklos verschlingen, und diejenigen, die ihn (fast) nie lesen. Letztere könnten viel lernen: Welch dümmliche Weltbilder, besessen allein von der Leistung, hier gebastelt werden. Die Wirkung solcher Weltbilder geht weit über den Sport hinaus.

Bisweilen muß noch gar nichts passiert sein. Als Sydney die Sommerspiele 2000 zugesprochen wurde, orakelte dpa, dies sei weise, das australische Frühjahr lasse mit seinen Temperaturten um 20 Grad Höchstleistungen und Bestmarken fast zwangsläufig erwarten. Wir deduzieren daraus, mit Verlaub, wichtigere Sportthemen können sofort, so sie überhaupt mehr als oberflächlich thematisiert wurden, ad acta gelegt werden.

Ohne die Uhr geht nichts. Selbst bei Langstreckenläufen, ob auf Schnee oder Tartan, werden – Tendenz stark steigend – dauernd Zwischenzeiten genommen, hochgerechnet und verglichen. Alles um künstliche Spannung hochzupowern und die Menschen auch über die nächste Werbeeinblendung hinaus an der Glotze zu halten. Es gibt Landesrekorde, Kontinentrekorde, Weltrekorde, dazu olympische oder solche bei Weltmeisterschaften aufgestellte, auch persönliche, und Jahresbestzeiten, die wiederum national, kontinental und weltweit katalogisiert werden können.

Verwunderlich, daß noch niemand auf die Idee gekommen ist, in der Neujahrsnacht im pazifischen Königreich Tonga (gleich neben der Datumslinie, somit zeiterstes Land erdweit) einen großen Leichtathletik-Wettkampf zu veranstalten: Das gäbe Jahresweltbestzeiten en masse und reichlich vermarktbare Schlagzeilen.

Auch der schreckliche Tod der Abfahrtsläuferin Ulrike Maier ist Folge des Tempowahns: Nicht nur, daß die Ski-Asse immer schneller auf immer schnelleren Skiern immer steilere Berge hinunterschießen, sondern Maier prallte zynischerweise genau gegen die Apparatur, welche die absurden Höchstgeschwindigkeiten messen will: die Zeitmeßmaschine. Emmas Logik, makaber umformuliert, zählt auch hier: Abfahrt und Abgang im gleichen Moment.

Beim Tennis werden Aufschlaggeschwindigkeiten gemessen und darüber hitparadenhafte Tabellen erstellt. Alles wird analysiert und seziert: Skispringers Absprungtempo, Bobfahrers Startzeit, Sprinters Reaktionszeit am Startblock oder des Profiradlers Durschschnittsgeschwindigkeit – und immer mit möglichst vielen Stellen hinterm Komma. All das soll möglichst seriös, unbestechlich und besonders kompetent erscheinen.

Paradox nur: Disziplinen, in denen es allein auf Geschwindigkeit ankommt, sind denkbar langweilig. Schwimmen etwa: Da hecheln auf acht Bahnen acht Schwimmer kaum unterscheidbar nebeneinander her (es sei denn an der für Sekundenbruchteile sichtbaren Farbe der Badekappe). Oder Motorsport: Perverse PS-Geschosse donnern vorbei, dem Beobachter reicht die Zeit nicht, um irgend etwas wirklich zu erkennen. Folglich gibt es die Zeitlupe: Wo alles immer schneller und uniformer wird, muß man es künstlich verlangsamen, um es überhaupt wahrnehmen zu können. Besonders stolz sind die Erfinder des Privatfernsehens auf die neuen Zeitlupen, Superzeitlupen, Superslowmotion genannt, insiderisch „Superslomo“ abgekürzt.

Die Medien treiben die Beschleunigung im Sport voran. Nicht erst heute übrigens. Schon 1972 bei der Olympiade in München waren zwei Schwimmer einmal auf die Hundertstelsekunde zeitgleich. Gold für beide? Nein: Die Zeitmessungstechnologie schaffte schon damals, die beiden Zeitgleichen zeitungleich zu machen. Zwei Tausendstel Unterschied waren gefunden, kaum mehr als der Unterschied zwischen einem geschnittenen und einem ungeschnittenen Fingernagel. Erkennen kann so etwas keiner mehr – man muß es glauben. Und hinnehmen wie der Geschlagene mit dem zu kurzgeschnittenen Fingernagel.

Die Stuttgarter Leichtathletik- Weltmeisterschaft hatte im August 1993 wieder so einen Fall. Über 100 Meter der Frauen waren Merlene Ottey aus Jamaica und die US-Amerikanerin Gail Devers zeitgleich. Wieder wurde eine für menschliches Zeitempfinden wenig nachvollziehbare Willkürentscheidung getroffen. Die eine, Devers, soll einen Hauch früher im Ziel gewesen sein. Denn zwei Siegerinnen – das wäre systemfremd, folglich sieht die Sportwelt der Rekordsüchtigen so etwas nicht vor. Wo man mit Hilfe der Technologie etwas auseinanderdividieren kann, tut man das auch.

Die pfeifenden Zuschauer im Stadion empörten sich, aber den Sportlerinnen kann es, so paradox auch das scheinen mag, durchaus recht sein: Devers kann sich als Weltmeisterin vermarkten – wie sie es wurde, danach fragt später keiner mehr (alte Sportlerweisheit) –, und Ottey darf sich als tragisch gescheiterte, zudem als die am knappsten geschlagene Vizeweltmeisterin aller Zeiten feiern lassen. Beide dürften es millionenschwer zu nutzen wissen, mehr als gäbe es zwei schnellste Frauen der Welt. Wie das schon klingt ... Und der Geschwindigkeits-Philosophie strikt zuwiderläuft: Immer muß einer schneller sein als ein anderer.

Abschuß und Einschlag im gleichen Moment – Emma ist überall. Dabei hat es übrigens auch schon das Gegenteil Emmerichscher Wünsche gegeben: Philosophenfußball. – Es war ein Sketch von Loriot: Der Ball liegt auf dem Anstoßpunkt. 22 langgewandte Gestalten von altgriechischem Äußerem schreiten grübelnd auf und ab. Nichts passiert – nichts im Sinne des Sports: Keine Action, kein Hin und Her, erst recht nichts Schnelles, Temporeiches. Alle denken nur. Plötzlich hat einer den großen Geistesblitz, er stellt sich vor den Ball und tritt dagegen. Tritt einfach dagegen. Irgendwohin damit. Aus dem Off ertönt zehntausendfacher Jubel.

Möglich, daß dies die 2.000 Jahre alte Vorlage für Lothar Emmerich war. Ein Traumpaß sozusagen.