Rückzug

■ "Wie ein wuchernder Erdklumpen auf der Seele", 23 Uhr im Ersten

Als im vergangenen Jahr das Buch „Ich will kein Inmich mehr sein“ des 20jährigen Birger Sellin auf den Markt kam, waren die Literaturkritiker schier aus dem Häuschen; einen „neuen Hölderlin“ oder „Artaud“ wollten sie entdeckt haben. Doch mindestens so erstaunlich wie die Qualität dieser Texte schien die Tatsache, daß der Autist Sellin nicht sprechen kann, nie eine Schule besucht hat – sondern wie andere Autisten als geistig zurückgeblieben galt, bis er vor drei Jahren nach einer in Australien entdeckten Methode mühsam den ersten Satz in die Tastatur eines Computers drückte.

Literatur über den noch immer rätselhaften Autismus gab es zwar meterweise, doch von Autisten selbst hatte man bis vor ein paar Jahren noch keine Zeile gelesen. Uns schienen Birger Sellins Texte zu offenbaren, daß er all die Jahre keineswegs in abgestumpfter Apathie gelebt, sondern seine Umgebung und seine Krankheit äußerst differenziert wahrgenommen hatte. Verständlich, daß sein Buch binnen kurzem zum Bestseller wurde. Aber während der Verlag Kiepenheuer & Witsch noch an der Erschließung des internationalen Marktes werkelt – sieben Übersetzungen sind derweil in Arbeit – mehren sich kritische Stimmen, die die Praxis der „gestützten Kommunikation“ und somit auch die Authentizität der Sellinschen Texte in Frage stellen. Mehrere Studien über die „Facilitated Communication“ hatten in den USA ergeben, daß nur fünf Prozent der getesteten Autisten ohne fremde Hilfe mit der Maschine kommunizieren konnten. Zu einem weit größeren Teil blieben die Probanden im Umgang mit der PC-Tastatur auf einen vermittelnden Helfer angewiesen. Manipulationen durch wohlmeinende oder gar ehrgeizige Angehörige seien da Tür und Tor geöffnet, meinen die Kritiker.

Dokumentarfilmer Felix Kuballa geht auf solche Spekulationen nicht ein. Er stützt sich in seinem faszinierenden Porträt „Wie ein wuchernder Erdklumpen auf der Seele“ fast ausschließlich auf die Texte Sellins, verzichtet löblicherweise (bis auf wenige Angaben zur Krankheitsgeschichte) auf jeglichen Kommentar und Gespräche mit Eltern, Ärzten und sonstigen „Experten“. Herausgekommen ist dabei ein Film, der vor allem deutlich macht, wie sehr Sellin unter seiner – nach eigenen (?) Worten – „nichtsnützigen autistischen Ärgerkrankheit“ leidet und welche Qual und gleichzeitig Erleichterung das Schreiben für ihn bedeutet.

Abseits der Frage, ob die Texte des Birger Sellin wirklich authentische Zeichen sind, wirkt es mehr als befremdlich, daß nach Erscheinen des Buches einige, scheint's, gänzlich benebelte „Künstler“ wahrhaftig schrieben, wie sehr sie des Autors „Rückzug in den Autismus“ in „diesen bösen Zeiten“ für eine überaus nachahmenswerte Konsequenz hielten. Reinhard Lüke