Plötzlich, letzten Sommer

In Techinés „Meine liebste Jahreszeit“ fällt Mutter aus dem blühenden Kirschbaum, dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut  ■ Von Mariam Niroumand

Irgendwann im August holen Emilie (Catherine Deneuve) und ihr Mann Bruno (Jean-Pierre Bouvier) Emilies Mutter Berthe (warum sieht man ansonsten so wenig von Marthe Villalonga?) zu sich nach Toulouse. Das Leben witscht den beiden normalerweise aalglatt durch die Finger, sie betreiben gemeinsam eine hochpotente Anwaltspraxis; und Sie kennen ja die Deneuve, wie effektiv die das Kinn recken kann und sich an den Schultern durch den Raum schiebt, ganz Funktion, ganz Bourgoisie. Berthe lebte auf dem Land, mit noch ein paar Hühnern und großen Kirschbäumen, aber das geht jetzt nicht mehr: das Herz ist zu alt. Ein Gesicht hat sie wie ein mißtrauischer Vogel, aber auch augenzwinkernd, freundlich-verwittert. Mit ihrer Ankunft in der Familie zieht plötzlich ein Poltergeist in das Haus, man weiß seinen Namen zunächst nicht, aber er kehrt alles von oberst zu unterst.

Irgendwie ist eine Not entstanden, die Emilie dazu treibt, ihren Bruder Antoine (Daniel Auteuil) aufzusuchen, was sie jahrelang nicht getan hat. Er sitzt in Weiß, mit der professionellen Gelassenheit des Gehirnchirurgen, in der Krankenhauskantine; aber zwischen den beiden poltert es auch, und man weiß nicht wieso. Ja, er wird zu Weihnachten kommen. Nein, er wird keinen Streit mit Bruno anfangen.

Techinés kühne Rechnung, die zwei profundesten Persönlichkeiten des französischen Gegenwartskinos zerlaufen zu lassen wie zwei Tintenflecke, geht auf, aber nicht brutal, nicht sarkastisch, wie das bei Altmann wäre. Über dem ganzen Film liegt etwas wie die gleichmäßig schwebende Aufmerksamkeit des guten Analytikers; alle Personen sind aufgehoben und geschützt, auch während sie sich aufs Schärfste exponieren. – Antoine kommt also wirklich zu Weihnachten, kommt durch die verschneite, verregnete Nacht gefahren in einem alten Renault; und man hat gleich ein bißchen Angst um ihn, wie er da so hinter dem Lenkrad hockt und übt: Es war ein schöner Abend, das Essen war wundervoll, Emilie; ach, die Familie ist doch einfach – das Wichtigste.

Natürlich fliegt der schöne Abend allen Beteiligten um die Ohren. Die Teenager, Tochter Anne (Deneuves und Mastroiannis real existierende Tochter Chiara), Adoptivsohn Lucien und eine gewisse Khadija erschrecken im oberen Stockwerk über plötzlich hereinbrechende Zzzexualität; Berthe will mit ihren Kindern über ihr Testament sprechen, aber Antoine weigert sich, das anzuhören; Bruno haut Antoine auf die Nase; Mutter und Antoine reisen ab, Bruno und Emilie werden sich trennen.

Danach ändern sich die Farben des Films. Was vorher ein bißchen schummrig, ockerfarben, gedämpft war, tritt plötzlich in beißender Klarheit hervor. Sogar die Luft schneidet. Emilie lebt allein, Antoine lebt allein: Bleib' ein paar Tage bei mir ... Was ist dabei? Wir sind vierzig, wir halten's mit niemand anderem aus, warum ziehen wir nicht zusammen? Auteuil, dessen Part sonst immer darin besteht, ein wandelndes Burned-Out-Syndrom zu sein, gibt hier mit bestürzender Brillianz jemanden, der zugleich in sich verschüttet und raumgreifend extrovertiert ist. Unglaublich auch die Deneuve: Die Zügel ihres festgezurrten Lebens fahren ihr aus der Hand, ohne daß sie die Selbstkontrolle erwachsener Frauen denunziert, wie das so gern geschieht bei Kieslowski und den anderen Katho-Machos (wo immer so was rüberkommt wie: ein gut organisierter Alltag soll nur die Depression/die Frigidität in Schach halten). Diese Denunziation findet auch dann nicht statt, als die Deneuve träumt oder erlebt, wie ihr auf der Parkbank vor Antoines Krankenhaus ein fremder Mann begegnet, dessen Gesicht man nie richtig zu fassen bekommt; nur das Gefühl bleibt: Der da hat genau gewußt, was sie will, und hat ihre Abwehr aus dem Weg geküßt, ihr die Nylonstrümpfe zerrissen, hat alles gewollt und alles gekriegt, es hat nur zwei Minuten gedauert. War's der Bruder?

Mutter fällt aus dem Kirschbaum, plötzlich erscheinen ihr die Flieger aus dem Krieg, die eigene Mutter, die Sirenen von damals, Paranoia. Sie wird nie wieder ganz aufwachen; daß sie in ein Heim muß, gibt ihr den Rest.

Alle stürzen, strudeln, sind wie gehäutet, und trotzdem wird der Film zum Epilog hin immer ruhiger, leichter. Schließlich wird es sogar wieder Sommer.

„Meine liebste Jahreszeit“, Regie: André Techiné, Kamera: Thierry Arbogast, Mit Catherine Deneuve, Daniel Auteuil, Marthe Villalonga. Frankreich, 1993, 125 Min.