Indiens Weg auf dem Hochseil

Ministerpräsident Raos Europabesuch soll die Liberalisierung der Wirtschaft absichern / Deutsche Industrie hat Nachholbedarf  ■ Aus Neu-Delhi Bernhard Imhasly

Als Narasimha Rao vor zwei Jahren im Weltwirtschaftsforum in Davos auftrat, trafen seine Worte bei der versammelten Creme internationaler Manager auf mißtrauische Ohren. Es war nicht das erste Mal, daß ein indischer Politiker versprach, der ruinösen Erfahrung von vierzig Jahren Staatswirtschaft den Rücken kehren zu wollen.

Bereits Rajiv Gandhi hatte 1985 mit seinem jugendlichen Image viele ausländische Unternehmen nach Indien gelockt. Doch als sie kamen, stellten sie rasch fest, daß das Gestrüpp einer wuchernden Bürokratie, politischer Schmarotzer, einer ineffizienten Staatswirtschaft und einer protektionistisch geschützten Privatindustrie kein Durchkommen erlaubte.

Allein die staatlichen Industrien hatten, so berechneten Ökonomen, rund 50 Milliarden Dollar an Subventionen verschlungen – und dafür ein Wachstum von 1,5 Prozent produziert. Eine halbherzige Liberalisierung, die weiter auf die politischen und wirtschaftlichen Sonderinteressen abstellte, kam daher der Methode gleich, mit der sich Baron Münchhausen aus dem Sumpf ziehen wollte.

Was viele Zuhörer in Davos vor zwei Jahren nicht in Rechnung stellten, war die Tatsache, daß Indien das Wasser tatsächlich bis zum Hals stand. Die Devisenreserven deckten als Folge der Golfkrise und der emporschnellenden Erdölpreise gerade noch den Importbedarf einiger Tage, die Auslandsverschuldung hatte 65 Milliarden Dollar erreicht und drohte das Land spätestens 1995 in eine Schuldenfalle zu stürzen.

Die Krise bot der damals neuen Regierung unter Finanzminister Manmohan Singh den Schild, hinter dem sie erstmals radikale Reformen durchsetzen konnte. Zunächst wurde das Handelsregime liberalisiert und die Zölle von durchschnittlich 250 auf 100 Prozent gesenkt; dann wurden die Investitionsbedingungen für ausländische Unternehmen umfassend verbessert; schließlich wurde damit begonnen, den Berg an Vorschriften abzubauen, die jede Produktion bisher begleitet hatten.

Es war die Kombination des ökonomischen Sachverstands des Finanzministers, der politischen Rückendeckung Narasimha Raos und des Flankenschutzes von IWF und Weltbank – die bereit waren, als ideologische Blitzableiter herzuhalten – welche dem Land innerhalb eines Jahres gestatteten, seine Wirtschaft zu stabilisieren und auf einen neuen Wachstumspfad zu bringen. Die Inflation sank von 17 auf 5 Prozent, die Devisenreserven stiegen auf zehn Milliarden Dollar, und die Ausfuhren, traditionell der schwächste Pfeiler im Außenhandelsregime, stiegen um 20 Prozent, und dies ausgerechnet während der weltweiten Rezession.

Sieben Milliarden Dollar Auslandskapital begannen ins Land zu fließen, zunächst in Form von Investitionen, dann zunehmend auch durch den aktiven Einstieg institutioneller Investoren bei indischen Börsen, schließlich auch durch Anleihen indischer Firmen auf dem internationalen Kapitalmarkt. Über 40 Prozent davon kamen zuletzt aus den USA, nur magere zwei Prozent aus der Bundesrepublik. Obwohl sich die deutschen Investitionen von 1990 bis 1993 verneunfacht haben, wurde die deutsche Industrie abgehängt.

Im Lauf des letzten Jahres allerdings kam der Reformprozeß merklich ins Stocken. Die politische Instabilität nach den religiösen Spannungen zwischen Muslimen und Hindus zwang die Regierung, das Ziel einer Defizitminderung (durch eine radikale Beschneidung der Subventionen) aufzugeben, um nicht durch eine Koalition von Partikularinteressen in Sturzgefahr zu geraten. Die Inflation zog wieder auf knapp zehn Prozent an, und das Defizit dürfte für 1993 fast das Doppelte der geplanten Größe erreicht haben.

An einige Bereiche – etwa der überfälligen Reform der Steuer- und Beschäftigungspolitik – hat sich die Regierung nicht herangewagt. Doch die Resultate der Regionalwahlen im November, welche die nationalistische BJP-Partei verloren, haben diese politischen Barrieren nun beseitigt, und es wird erwartet, daß das kommende Budget einen neuen Liberalisierungsschub bringen wird.

Der Auftritt Narasimha Raos vor einigen Tagen in Davos glich jenem von 1992 kaum mehr. Nicht nur drängten sich diesmal zahlreiche Spitzenvertreter von Industrie und Banken um die indische Delegation; in der Abschlußrede konnte es sich der Premierminister leisten, nicht als aggressiver Verkäufer seines Landes aufzutreten, sondern als vorsichtiger Reformer. Für Rao ist ein schrittweises Vorgehen nicht nur die Bedingung für das politische Überleben in einer Demokratie; es ist das Resultat einer Wirtschaftsphilosophie des „Mittelweges“, dem ein Land folgen muß, in dem 300 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben müssen. Der Zusammenbruch der Staatswirtschaft heißt nicht, so Rao in Davos, daß das Marktmodell als einzig mögliches Rezept global und uniform verschrieben werden muß. „Regierungen armer Länder“, meinte Rao, „können es sich nicht erlauben, große Teile ihrer Bevölkerungen einfach in ihrem Elend zurückzulassen“. Und er rief seinen Zuhörern in Erinnerung, daß ethnische und religiöse Konflikte in der Regel das Resultat von Armut sind.