Mit Oma ins Krankenhaus

■ Als Großmutter beschloß, verrückt zu werden Von Fanny Müller

Vor etwa fünf Jahren, mit 79, hat unsere Oma beschlossen, verrückt zu werden. Nicht, daß sie es angesagt hätte – meine Schwester Marion und ich merkten nur an verschiedenen Anzeichen, daß sie nach und nach gaga wurde: Als erstes ließ sie Harry, den Nymphensittich, verhungern. Unsere Vorhaltungen tat sie lapidar ab: „Wir müssen alle mal nach Ohlsdorf“. Dagegen ließ sich nicht viel einwenden. Dann erinnerte sie sich nicht mehr an unsere Namen; beschimpfte uns zeitweilig sogar als Verbrecher, die ihre Sparbücher klauen wollten; gab uns unvermittelt Kopfnüsse, wenn wir ihre Schuhe zubinden wollten und dabei vor ihr knieten – sie war nämlich vom vielen essen so dick geworden, daß sie das nicht mehr allein schaffte. Auch stopfte sie eines Abends ihre Perücken ins Klo, und stellte nur so aus Daffke alle Herdplatten an, bis sie durchbrannten.

Als wir Essen auf Rädern bestellten, nahm sie zwar etwas ab, aber inzwischen hatte sie sich an jedwede Bedienung so gewöhnt, daß sie überhaupt keinen Finger mehr rührte, außer bei Essen. Wir wuschen, putzten und schalteten den Fernseher ein und aus; das letztere unter ihrem lautstarken Protest, obwohl sie nicht mehr rauskriegte, was da lief – sie hielt alles für Tennis und gab in diesem Sinne Kommentare an. Marion und ich betreuten sie gemeinsam, zusammen mit Aishe von der Sozialstation, die auch ihren Teil von den Ohrfeigen abkriegte.

Eines Tages war es dann soweit: Der Hausarzt teilte uns mit, daß Oma zu einer gynäkologischen Untersuchung ins Krankenhaus müsse. Ins Krankenhaus deshalb, weil sie eventuell wegen eines Eingriffs dort bleiben würde. Die Einzelheiten des Warum und Wieso möchte ich an dieser Stelle übergehen.

Jedenfalls setzten wir die ganze Maschinerie in Bewegung und am 11. war es dann soweit: Wir wanderten mit Oma ins nahegelegene Allgemeine Krankenhaus. Uns war überhaupt nicht wohl dabei – das Ganze hatten wir übrigens Oma gegenüber als kleinen Ausflug deklariert, legten auch unterwegs bei einer Frittenbude eine Pause ein – denn Oma war noch nie in ihrem Leben einem Gynäkologen unter die Finger geraten.

Wie sie ihr einziges Kind, unsere Mutter auf die Welt gebracht hat, wird ein Rätsel bleiben. Das Familiengerücht besagt, daß sie sowieso erst im 6. Monat gemerkt hätte, daß sie schwanger war, im achten zwei Knöpfe ihres Kostümrocks aufmachte und im neunten dann das Kind gebar, vermutlich im Koma. Und jetzt mit 84 zum ersten mal zum Frauenarzt?

Auch Aishe, die uns begleitete, wurde immer schweigsamer. In der Klinik angekommen, wurden wir zunächst in eine Sitzecke im Flur verfrachtet. Dieser Flur war, nebenbei gesagt, nicht in diesem kackgrün gestrichen, das man von Krankenhäusern gewohnt ist, und auf das Psychologen jahrelang studieren, sondern mit Tapeten verschönt, die von offenbar neurotischen Gärtnern entworfen worden waren. Hier und da öffneten sich nun Türen, und Patientinnen in Morgenmänteln schlurrten den Flur entlang, böse Blicke auf uns werdend. Vermutlich hielten wir die Raucherecke besetzt. Aber uns war alles egal. Wir warteten. Oma war zusammengesackt und schnarchte. Wir warteten weiter.

Dann plötzlich waren wir von fünf Ärzten umringt, die alle keinen Tag älter als 25 und Squash-gestählt aussahen. Endlich ging es los: „Frau B., wie alt sind Sie?“ – Oma schreckt auf: „Das sach ich doch nich!“ – „Wieviele Kinder haben Sie, Frau B.?“ – „Das geht Sie gar nix an!“. Widernatürliche Freude keimt in uns auf. – „Welcher Jahrgang sind Sie, Frau B.?“ – „Erstersechsternullsechs“, schnarrt Oma. Scheiße, reingefallen, Oma. Aber lieb haben wir sie doch. Wer außer ihr hätte denn damals auf unserem Hinweg zur Schule die wollenen Unterhosen (die nicht nur so hießen, sondern auch so aussahen) aufbewahrt, und auf dem Rückweg wieder ausgehändigt, weil Mutter nach unserer Heimkehr immer einen kritischen Blick unter unsere Faltenröcke warf?

Inzwischen haben es die Herren irgendwie geschafft, Oma von uns wegzubugsieren. Man verschwindet hinter der Tür mit dem Schild „Untersuchungsraum“. Marion und ich verziehen uns in die hinterste Ecke des Flurs und halten uns die Ohren zu. Aishe hält tapfer so aus. Ein gräßlicher Schrei. Noch einer. Mir wird schlecht. Marion wird auch schlecht. Die Zimmertüren öffnen sich; der Flur ist voller Morgenmäntel. Jetzt ist wieder Stille. Dann geht die bewußte Tür auf. Flankiert von zwei der Herren humpelt Oma auf uns zu. Singend. Mit übermenschlich schöner Stimme brüllt sie: „Hoch soll sie leben, hoch soll sie ...“ bis zum bitteren Ende, wobei sie ins Maskulinum verfällt (er lebe hoch, er lebe drei-mal hoch). Ohne Absprache singen wir drei mit. Der Flur ist jetzt voller Frauen. Alle klatschen. Zwei haben sich frech eine Kippe angezündet, denn die Ärzte sind verschwunden.

Oma hockt wieder im Sessel, guckt verschlagen um sich und kaut ein Butterbrot, das Aishe von irgendwoher organisiert hat. Eine ganze Weile wird jetzt auf dem Flur diskutiert (“Man muß sich auch nicht alles bieten lassen“), bis unsere Sportsfreunde wieder auftauchen. Sie teilen uns mit, daß sie leider gegen den Willen der Patientin nicht... sie sei ja nicht entmündigt... Ein paar grinsende Schwestern gucken um die Ecke. Die allgemein angeregte Stimmung hält an. Wir bestellen großartig ein Taxi. Während wir warten, lese ich laut aus dem Diagnosezettel vor, den man uns gerade in die Hand drückt: „Altersdemenz... Alzheimer... Frau B. ist hochgradig verwirrt...“.

Das Vorlesen wird von den Medizinern nicht gern gesehen, insbesondere auch deshalb nicht, weil Marion und Aishe ständig unterbrechen: „Ach nee, wer hätte das gedacht... da wären wir ja nie drauf gekommen...“ usw. Der Taxifahrer läuft ein, was Oma zu erneutem Gesang animiert. Diesmal ist es aber „Waldeslust“. Wir versuchen, ihm zu erklären, daß... aber er winkt ab: „Ich bin Taxifahrer. Ich hab' schon alles erlebt“.

Das bewahrt ihn aber nicht vor einer Ohrfeige, als er Omas rechtes Bein in den Fond nachschieben will: „Das kann ich alleine!“, brüllt sie, und schon kriegt er eine gewischt. Unsere Abfahrt wird von Winken und Rufen aus dem ersten Stock begleitet. Die Damen schwenken Blumensträuße und brennende Kippen und wünschen „noch alles Gute!“.

Nun sind wir wieder zu Hause. Aishe und ich betten Oma aufs Sofa, schalten den Fernseher ein und fallen in unsere Sessel. Marion setzt Kaffeewasser auf. Oma stiert in die Glotze. Sie kann die Augen kaum noch offenhalten. Auf einmal schießt sie hoch: „Das ist ja alles so furchtbar!“ – „Was denn, Oma?“ - Sie sinkt wieder zurück: „Alles muß man selber machen!“. Ja, Oma, da ist was dran. Wir trinken unseren Kaffee, während Oma wegschnarcht.

Inzwischen ist sie nun doch nach Ohlsdorf gekommen.