Der Wahnsinn der Beine

■ Aus der großen Zeit des Nachtlebens: Am Sonntag startet ein Film über das alte „Astoria“

Großteils unerkannt leben sie unter uns, und gottgefällig die neisten. Nur einmal im Jahr, am Bußtag, kommt die Geschichte über sie. Da müssen sie in den „Kaiser Friedrich“ zum Astorianer- Treffen und sich an den alten Zeiten ein wenig beschwipsen, wo das Leben noch ans Glamouröse, wenn nicht Sündhafte grenzte: die Schankkellner, die Musikanten, die Nummerngirls, die Kaffeeköchinnen und Verwandlungskünstler und Pförtner des alten „Astoria“, welches am 31. Dezember des Jahres 1967 mitsamt seinen fast 200 Angestellten der Übermacht des Fernsehens gewichen war.

Da waren aber schon alle da gewesen: Zarah Leander, Emil Jannings, Hans Albers, Claire Waldoff, zahllose Artisten, Sänger, Entertainer und zwischendurch auch mal talentierte Pudel oder Elefanten. Das „Astoria“ im Katharinenklosterhof mit all seinen Sälen und Nischen und Bars war einer der größten Amüsierbetriebe überhaupt, und der unermeßliche Emil Fritz, der es 1908 gegründet hatte, erreichte am Ende unter den bremischen Steuerzahlern den zweiten Platz.

Am Sonntag wird man noch einmal ein wenig mitkriegen von der großen Zeit des Nachtlebens, denn der Bremer Vielfachkünstler Rolf Wolle hat mit einem kleinen Team einen Dokumentarfilm gedreht: „Astoria - Es war einmal ein Varieté“. Darin kann man zuallererst vielen enormen Leuten begegnen: dem fanatischen Gast Lothar Herborth, den Nummerngirls Ingeborg Kiehn und Heidi Rosebrock, einem Jazzmusiker, der von der Zeit des Swing-Verbots erzählt, und bspw. dem jahrzehntelangen Orchesterchef Franz Frankenberg, der's kaum mal zu freien Tagen gebracht hat, aber froh war, daß er da nicht reisen mußte.

Daß der Film jetzt beim Bremer Filmfest im Kino 46 uraufgeführt werden kann, ist leider außer den Beteiligten nicht sehr vielen Menschen zu danken. Zwar gab es ein bißchen Geld von der Kulturbehörde und viel Hilfe vom Filmbüro, aber von 40 angeschriebenen Firmen, allesamt ehemalige Astoria- Zulieferer, haben nur drei überhaupt geantwortet, und von den 83.000 Mark, die der Film gekostet hat, stehen noch 60.000 Mark aus.

Dabei ist das Projekt schon einige Male heruntergerechnet worden. Zuerst war noch von einem Trip nach Las Vegas die Rede gewesen, wo die Astoria-Illusionisten „Siegfried & Roy“ ihr Glück gemacht haben, oder nach Barcelona, wo eine ehemalige Tänzerin ihr kaputtes Hüftgelenk pflegt, oder nach Berlin zu Brigitte Mira und Maricka Röck. Alles gestrichen.

Auch sonst war's oft gar nicht so einfach. Sehr viel Material ist in der Bombennacht des 8. Oktober 1944 verlorengegangen, und was die alten Astorianer noch durch die Jahrzehnte retten konnten, das haben sie sich von dem Achim Grunert für sein „Astoria“-Projekt im alten Stadtbad am Richtweg abschwatzen lassen. Da ruht es jetzt immer noch in der Konkursmasse, und die Filmer hatten infolgedessen mit einigem Mißtrauen zu kämpfen.

Dann kam's doch noch in Gang, und es hagelte Anrufe, Erzählungen und alte Postkarten, so daß nun gut 60 Filmminuten, gesättigt mit alten Geschichten und korrespondierenden Archivaufnahmen, zustandegekommen sind. Der erste Teil befaßt sich mit Emil Fritzens historischer Tat, dem Kauf eines Packhauses mitten in der Innenstadt, dem er nach und nach immer mehr Packhäuser hinzufügte, bis er schließlich geradezu über einen eigenen Stadtteil des Amusements gebot, verbunden mit Durchgängen, Winkeltreppen und anderen dunklen Kanälen.

In den Sälen und Bars aber rauschte das Vergnügen, und das in einer Zeit, welche die aufkommenden Revues mit Vorliebe verdammte und einen „Wahnsinn der Beine“ nannte. Fritz achtete umso sorgsamer auf ein gewisses Niveau in seinen Programmen und setzte sich bald vollends durch, nicht zuletzt weil er die Kabinenpassagiere ankommender Dampfer mit Freikarten noch und noch beschenkte und derart recht schnell einen Weltruf beisammen hatte.

Als am 8. Oktober 1944 die gesamten Emil-Fritz-Vergnügungsbetriebe bei einem Luftangriff zerstört wurde, schien die Geschichte des Astoria beendet zu sein. Daß sie und der Film es dennoch zu einem zweiten Teil brachten, ist wiederum dem alten Fritz zu danken, den es nicht lange auf seinem Landsitz in Sottrum hielt: Schon 1950 war das neue „Astoria“ fertig, wenige Meter vom alten entfernt, und die ganze Erlebnisgastronomie nahm ihren Fortgang.

Als Fritz 1954 starb, übernahm seine Frau das Geschäft. Bald war's aber gar nicht mehr so leicht, all die Pagen und Empfangsdamen und das Orchester zu bezahlen; das Fernsehen drängte mit Macht in die Freizeitgestaltung, und 1967, im Schreckensjahr der Astorianer, war endgültig Schluß. Das vorerst allerletzte Kapitel schreibt die Bremer Landesbank, die das Gebäude in diesem Jahr abreißen und durch ein Bankgebäude ersetzen wird.

Manfred Dworschak

Am Sonntag um 19 Uhr wird im Kino 46, Waller Heerstraße 46, der Film uraufgeführt. Hinterher spielt die „City Club Combo“ aus dem verblichenen Astoria!